Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2017, ISBN 978-3-7887-3157-1, 128 Seiten, Broschur,
Format 22 x 14,5 cm, € 20,00
Die Schweizer reformierte Theologin, theologische Geschäftsführerin am Zentrum für Kirchenentwicklung
der Universität Zürich und Präsidentin des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag Christina Aus der Au
Heymann und der als Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität
Zürich lehrende Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung Thomas Schlag nehmen mit ihren
reformatorischen Anstößen zu einer protestantischen Lebenskultur Frei Glauben eine unaufgeregte,
nachdenkliche und nüchterne Zusammenfassung der 2008 ausgerufenen und mit dem 500.
Reformationsjubiläum am 31. Oktober 2017 endenden Reformationsdekade vorweg.
Anders als die medialen Schlagzeilen vom Bedeutungsverlust des Glaubens und vom Niedergang der
Kirchen setzen Aus der Au und Schlag auf die Kraft einer sich als Auslegungs- und Deutungsgemeinschaft
verstehenden Kirche, die sich als ecclesia semper reformada auf ihren Ursprung besinnt und sich die vier
protestantischen soli neu aneignet: „Solus Christus, allein Christus erlöst uns – und nicht Priester und
Heilige; sola gratia, allein durch Gnade sind wir gerechtfertigt – und nicht durch menschliche Leistung; sola
fide, allein durch den Glauben kommt uns die von Christus gewirkte Erlösung zu – und nicht durch Werke
und Ablassbriefe; sola scriptura, allein die Schrift ist Grundlage unseres Glaubens und unserer Kirche – und
nicht päpstliche Rundschreiben und geschichtliche Entscheidungen. In diesem Begriffsensemble wird
anschaulich: Nicht der Mensch, sondern allein Gott befreit den Menschen und lässt ihn hoffen […]. Die soli
gilt es […] auf das Reformationsjubiläum hin – man könnte sagen – neu abzustauben“ (C. Aus der Au / T.
Schlag S. 25). Für die Transformation und Aneignung der protestantischen soli ist ein Bildungsverständnis
zentral, das Freiräume für das eigenständige und kritische Denken schafft und den weltanschaulichen und
religionskulturellen Pluralismus „als eine Bereicherung für das eigene Glaubens-, Welt- und
Wahrheitsverständnis […] ernst“ nimmt. „In einem […] solchen […] weiten protestantischen
Bildungsanspruch spiegelt ❲sich❳ die hohe Bedeutung mündiger Selbstbildung wider, die durch die
reformatorische Bewegung selbst grundgelegt wurde“ (C. Aus der Au / T. Schlag S. 94 f.).
Anders als in der Vorstellung, dass Protestanten auch ohne Kirche ihren Glauben leben können, sind Aus der
Au und Schlag „der festen Überzeugung, dass es zur Wirklichkeit des evangelischen Glaubens hinzugehört,
sich auf eine persönliche Verbindung zur verfassten Gestalt von Kirche einzulassen […]. Calvin formuliert
[…]: >Es kann Gott nicht zum Vater haben, wer die Kirche nicht zur Mutter hat<. Das stellt theologisch
gesprochen eine erhebliche Zumutung dar, der man sich nicht entziehen sollte […]. Aber […] Kirche ist […]
nicht nur überall dort, >wo Gottes Wort […] verkündigt und gehört wird […].< Sondern in einem
programmatisch viel weitreichenderen Sinn gilt: >Kirche ist überall dort, wo Menschen durch Glaube,
Hoffnung und Liebe das Reich Gottes in Wort und Tat bezeugen<“ (C. Aus der Au / T. Schlag S. 102).
Was heißt dann aber frei glauben? „Frei zu glauben zeichnet sich […] durch eine bestimmte Grundhaltung
aus, die nicht das Privileg der innersten kirchlichen Zirkel ist. Protestantische Lebenskultur zeigt sich dort,
wo weit darüber hinaus Personen in ihrem gewissenhaften Handeln darauf vertrauen, dass sich von Gott her
das entscheidende, schöpferische und neu schaffende Wort ereignet und lebensbedeutsam entwickelt. Was
nun allerdings das gute Leben ausmacht, ist inmitten der postmodernen Verhältnisse keineswegs von
vornherein oder allgemein klar. Lebensmöglichkeiten sind nicht mehr vorgegeben, sondern werden ergriffen
und gewissermaßen immer wieder neu erschaffen. Wissenschaft und Technik, Politik und Wirtschaft
gestalten die Welt permanent um. Eindeutige Orientierung werden deshalb schwieriger. So unterliefe eine
allzu einfach gestrickte Zivilisationskritik letztlich die Komplexität politischer, ökonomischer, medizinischer
oder naturwissenschaftlicher Zusammenhänge“ (C. Aus der Au / T. Schlag S. 118 f.). Evangelischer Glaube
übernimmt Mitverantwortung für alle Belange des gesamten Lebens. „Er sensibilisiert […] in ganzheitlichem
Sinn für die weitreichenden Zusammenhänge […]. Sensibel und achtsam für die Not der Schwachen zu
werden, sowie mutig und erfinderisch nach besseren, möglichst gewaltfreien Lösungen zu suchen, spiegelt
viel von der“ Glaubens- und Gewissensfreiheit „wider. Und vernünftige Abwägungen tragen sehr wohl
engagierten und profilierten Charakter. Insofern gehört es zur spezifisch protestantischen Freiheitskultur, sich
[…] immer wieder nach bestem Wissen und Gewissen zu positionieren. Von dort aus sind viele
Vollzugsformen evangelischen Glaubens und protestantischer Lebenskultur möglich, denkbar und
notwendig. So engagieren sich viele Menschen evangelischen Glaubens in vielen weltlichen Bereichen des
Rechts, der Politik, Wirtschaft, Kultur, Kunst, Bildung, Medizin oder der Medien“ (C. Aus der Au / T. Schlag
S. 123 f.).
Es sind allerdings in aller Regel eher tastend-abwägende als den Protestantismus vollmundig proklamierende
Versuche. „Sobald man sich in protestantischer Perspektive mit der Frage der eigenen Glaubensidentität
auseinandersetzt, ist man bereits mitten in der Vielfalt unterschiedlichen Auslegens und Interpretierens.
Eindeutigkeit und Pluralitätsfähigkeit bilden die unhintergehbaren Spannungspole protestantischen Kircheund
Christseins. Mit dem Reformationsgedenken eröffnet sich also ein denkbar weiter Deutungshorizont. Es
macht das protestantische Selbstverständnis aus, dass jede individuelle und gemeinschaftliche
Deutungspraxis nur als vielfältige und vielstimmige und nicht selten eben als uneindeutige und
widersprüchliche Form der Selbstauslegungspraxis in Erscheinung tritt“ (C. Aus der Au / T. Schlag S. 125).
ham, 27. Juli 2017
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