mit Beiträgen unter anderem von Konrad Hammann, Stefan Ehrenpreis, Friedrich Schweitzer, Burkhard Jung und Christoph
Matschie

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2014, ISBN 978-3-374-03804-6, 218 Seiten, 7 schwarzweiße
Abbildungen, Paperback, Format 23 x 15,5 cm, € 28,00

Der hoch informative und sehr gut lesbare Sammelband dokumentiert die erste von fünf interdisziplinär und
international angelegten Konferenzen zur Reformationsdekade, in denen zentrale Impulse und Wirkungen
der Reformation auf ihre historische Ausgangslage, ihre neuzeitliche Wirkungsgeschichte und den
gegenwärtigen relevanten Diskurs hin befragt werden. Im Zentrum der Auftaktkonferenz stand das Thema
Bildung und Protestantismus. „In der Tat sind Protestantismus und Bildung aufeinander bezogen. »Bildung«
– allgemeiner »Kultur« – wird gemeinhin sogar als Erkennungsmerkmal des Protestantismus bestimmt.
Dennoch wird seit der Formierung des Bildungsbegriffs im ausgehenden 18. und beginnenden 19.
Jahrhundert um das Verhältnis von Protestantismus und Bildung gerungen. Während die einen Interpreten
Bildung als anthropologisches Befreiungserlebnis beschreiben, ist die Verhältnisbestimmung für die anderen
durch soziale und mentale Brüche gekennzeichnet. Folglich ist zu fragen, wie sich Protestantismus und
Bildung genauer zueinander verhalten“ (Christopher Spehr S. 8 f.). In dem Band werden deshalb in einem
ersten Schritt die Ursprünge des protestantischen Bildungsverständnisses in der Frühen Neuzeit dargestellt
und interpretiert. Im zweiten Schritt folgt eine knappe Skizze der Wirkungsgeschichte des lutherischen und
reformierten Bildungsverständnisses. In einem dritten Schritt wird gefragt, „ob und inwiefern das
protestantische Erbe für heutige Bildungsdiskurse anverwandelt werden kann“ (Christopher Spehr S.9f.).

Im Eingangsteil zeichnet Konrad Hammann Luthers und Melanchthons Bildungsverständnis als »Bildung im
Dienst des Evangeliums« nach. „Die Familie und das Haus, die Schule und die Universität, die Kirche sowie
das ganz neue Medium der Flugschrift stellten für Luther »Lernorte« dar“ (Konrad Hammann S. 18), die
aber in der Frühphase der Reformation hoch umstritten sind. So wurde der Schulunterricht in der
Knabenschule in Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt eingestellt und radikale evangelische
Prediger bestritten den von Melanchthon betonten Wert und die Notwendigkeiten humanistischer
Sprachstudien. In dieser Situation nimmt Luther 1524 die städtische und die weltliche Obrigkeit in die
Pflicht, Bildung institutionell und inhaltlich zu gewährleisten. „Das pädagogische Handeln in der Schule
kann und soll nach Luther unter anderen auch zur Kenntnis der Heiligen Schrift und zum Verständnis des
christlichen Glaubens einen wichtigen Beitrag leisten. Es kann und soll aber nicht diesen Glauben
herbeiführen, der alleine dem Handeln Gottes zu verdanken ist […]. Pointiert formuliert: nach Luthers
Auffassung bringt Bildung nicht den neuen Menschen hervor. Sie hilft dem Christen aber, seinen Glauben
und sich selbst sowohl coram deo als auch coram mundo besser zu verstehen“ (Konrad Hammann S. 25). So
wird Bildung zur schlechterdings unverzichtbaren Voraussetzung dafür, dass der Christ sich in seinen
vielfältigen Lebensvollzügen bewähren und Gott fürchten, lieben und ihm vertrauen kann.

Nach Stefan Ehrenpreis ist die hohe Bedeutung des gelehrten theologischen Diskurses, die Orientierung auf
das gedruckte Wort und die globale, auf internationalen grenzüberschreitenden Austausch konfessioneller
Haltungen bedachte Dimension kirchlichen Beziehungen für das reformierte Verständnis von Bildung
charakteristisch. „Insbesondere letztere unterscheidet die calvinistische »Bildungspolitik« von der
lutherischen Seite des Protestantismus“ (Stefan Ehrenpreis S. 24). Neben der Gemeinde, Schule und
Universität sind auch Verlage von Anfang an in den Bildungskontext involviert. Und schließlich können sich
die reformiert-calvinistischen Gemeinschaften nicht auf die Umwandlung alter Strukturen stützen; sie sind
deshalb auf Neuschöpfungen wie die akademischen Gymnasien, reformierte Predigerlehrstätten wie die
»Prophezey« in Zürich und eigene Universitäten angewiesen. Lehrer sind sozial besser anerkannt und der
öffentliche Bildungssektor erfährt eine hohe Wertschätzung. Dies alles könnte eine Konsequenz des
Leitprinzips sapiens atque eloquens pietas (weise, wortgewandte Frömmigkeit) sein. Calvin schloss sich in
seinen Schriften dem humanistischen Mainstream an, „der von antikem Bildungsgedanken und christlichen
Kindheitsvorstellungen der Kirchenväter beeinflusst war. Kindlicher Glaube galt ihm als Vorbild für das
religiöse Empfinden auch der Erwachsenen“ (Stefan Ehrenpreis S. 36 f.). Seine Vorstellung von der
Erbsünde und der Erwähltheit hinderten ihn nicht, von den Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern
auszugehen. Jedem Kind sollte der vollständige Zugang zu Gott ermöglicht werden. In einem Punkt aber
brach er mit der Tradition: Nicht nur die Eltern, sondern die ganze Gemeinschaft der Gläubigen waren seiner
Meinung nach für die Erziehung zuständig.

Im mittleren Teil wird unter anderem die Transformation von pietas und eruditio, von Frömmigkeit und
Erziehung im Pietismus und der Aufklärung nachgezeichnet. Wenn um 1700 eruditio eine Funktion von
pietas war, so wird um 1800 Religion meist eine Funktion von Bildung. Ein wichtiger Schritt für diese
Umformung liegt nach Walter Sparn „im Abschied vom traditionell apokalyptischen Weltbild und der
Umstellung auf den früher durchweg für häretisch gehaltenen Chiliasmus, d. h. die Verschiebung der bislang
vorrangig an Ursprüngen haftenden Zeitorientierung hin auf die Zukunft und den praktischen Weg dorthin.
Zwar bildete die pointierte Orientierung des Pietismus an der Bibel ein gewisses Gegengewicht […].
Überdies hatten die Pietisten […] immer weniger eine Handhabe dagegen, eine einstweilen offenen Zukunft
zur unendlich offenen Zukunft zu transformieren, wie sie seit Gottfried Wilhelm Leibniz für die Aufklärung
charakteristisch wurde. So oder so, die mit der religiösen Reform verbundene pädagogische Reform hatte
nicht mehr die bescheidene Bedeutung, die alt gewordene Welt bis zur Wiederkunft Christi einigermaßen zu
erhalten helfen, sondern diente der immer stärkeren »Hoffnung auf bessere Zeiten«, wie der Spener’sche
Ausdruck lautete. Auf dem Weg erzieherischer Effizienz konnte auch die religiöse Reform projektiert,
organisatorisch realisiert und sozial stabilisiert werden. Dies gelang Spener mit einem der ersten Projekte der
»Erwachsenenbildung«, den collegia pietatis“ (Walter Spart S. 58 f.). In der sich Mitte des 18. Jahrhunderts
herausbildenden, einer frommen Aufklärung verpflichteten Theologie, die bald Neologie genannt wird,
werden die Begriffe pietas und eruditio als Religion und Bildung interpretiert.

„Was die Religion betrifft, so transformiere die Neologie den älteren, öffentlich-rechtlich Begriff durch eine
anthropologische Neubestimmung, die bald auch mit dem neuen Wort »Religiosität« bezeichnet wurde und
den traditionellen Ausdruck für individuelle Religion, »Glaube«, zurücktreten ließ. »Religion« wird nun
nicht mehr als ein bestimmtes Wissen (Dogmatik), auch nicht als bestimmtes Tun (Moral) spezifiziert,
sondern primär als die affektive Bewegung des je eigenen Herzens, der sich selbst in Beziehung auf das
Göttliche erfahrenden und so sich selbst fühlenden Seele; Religion ist daher nicht Observanz, sondern
Authentizität“ (Walter Sparn S.64). Bei Schleiermacher wird sie zum Gefühl der schlechthinnigen
Abhängigkeit. Die religiöse »Empfindung« (Joachim Spalding) oder das religiöse
»Gefühl« (Schleiermacher) werden dezidiert ohne den im Halleschen Pietismus gepflegten agonalen
Bußkampf und die optimistische Annahme gedacht, „dass der Mensch in seinen »natürlichen« ästhetischen
und moralischen Empfindungen dazu veranlagt sei, sich zur Vollkommenheit seiner Bestimmung zu
entwickeln, zu »bilden«“ (Walter Sparn a. a. O.). Für Wilhelm von Humboldt, Johann Gottfried Fichte und
Friedrich Schleiermacher wird die (Selbst-)Bildung durch Wissenschaft zu einer Aufgabe der
Philosophischen Fakultät.

Michael Winkler fasst Schleiermachers und Hegels Bildungsverständnis in drei Punkten zusammen: Der
Bildungsbegriff wird zum ersten ein analytischer, „eben ein Theoriebegriff, der verstehen will, wie
Menschen zu Menschen werden. Er verliert seine Normativität. Zum zweiten lautet der Befund, dass ein
Verständnis von Bildung nicht mit einem Wort, nicht mit der einfachen Definition zu erlangen ist […].
〔Der〕 Begriff der Bildung gilt einem komplizierten und komplexen Sachverhalt, der nur in umfassender
Theorie zu entfalten ist […]. Der dritte Befund zielt auf ein Weiterdenken: Schleiermacher und Hegel haben
zwei Optionen entworfen, um Bildung zu begreifen: beide sehen sie im historischen Prozess, beide begreifen
das Ineinander zwischen diesem, der menschlichen Lebenspraxis und der individuellen Entwicklung. Die
Differenz liegt weniger im Grad des Optimismus, den beide für den geschichtlichen Fortgang entwickeln
[…]. Die Differenz liegt vielmehr darin, ob wir uns mit Hegel auf die Vernunft verlassen und auf die mit ihr
gegebenen Freiheit oder mit Schleiermacher auf die Rück-Verbindung setzen […] 〔und〕 bei dieser vor
allem auf die Liebe vertrauen“ (Michael Winkler S. 95 f.).

Im letzten Teil fragt Martin Hein, ob Erlösung durch Bildung möglich wird. Die Frage setzt die
Entkoppelung der Bildung von ihrer theologischen Herkunft und die Enttheologisierung der Erlösung
voraus: Von Erlösung wird dann „nur noch metaphorisch geredet. Erlösung meint dann soviel wie:
Emanzipation, Befreiung, Entlastung und Rettung. Dabei […] ist es der Mensch selbst, der für seine
»Erlösung« einstehen muss. Aus der Sicht des christlichen Glaubens ist genau dies jedoch nicht einlösbar:
Bildung kann fördern, aber nicht retten“ (Martin Hein S. 164). „Ein rein säkularer Bildungsbegriff kann nicht
funktionieren. Er geht vom Menschen aus und kommt immer wieder bei ihm an. Die Kirche der Reformation
aber kann einen post-säkularen Bildungsbegriff anbieten, der in sich den Keim der Toleranz und der
Versöhnung der Kulturen trägt, weil er weiß, wovon er redet, und alle Erlösung getrost Gott
überlässt“ (Martin Hein S. 177). Wer erlöst ist, begreift Versöhnung als Frucht der Erlösung und kann sie
gestalten. „Bildung ist ein Weg dahin. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger“ (Martin Hein S. 178).

ham, 24. Januar 2017

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