Herausgegeben von Moritz Buchner und Anna-Maria Götz mit Texten u. a. von Anna-Livia Pfeiffer, Heléna
Tóth, Inga Schaub, Gerardo Scheige, den Hausgebern und einem Nachwort von Norbert Fischer und Reiner
Sörries
Kasseler Studien zur Sepulkralkultur Band 22, hgg. von Reiner Sörries
Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien, 2016, ISBN 978-3-412-50130-3, 260 Seiten, zahlreiche
Schwarzweißabbildungen und Tabellen, Hardcover gebunden mit Lesebändchen, Format 23,6 x 16,3 cm,
€ 35,00
Cicely Saunders hat 1967 das erste Sterbehospiz in London gegründet und Elisabeth Kübler-Ross 1969 ihre
Interviews mit Sterbenden veröffentlicht. Die von Kübler-Ross vorgeschlagenen fünf Phasen des
Sterbeprozesses Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn und Ärger, Verhandeln, Depressive Phase und Akzeptanz
wurden in der Praktischen Theologie der beginnenden 1970er Jahre intensiv diskutiert und für die
Seelsorgeausbildung rezipiert, das fünf-Phasenmodell in den Folgejahren von diversen Autoren aufgegriffen,
variiert und korrigiert. Die Ansätze und Forschungen von Saunders und Kübler-Ross sind für die Hospiz-
Bewegung und die Palliative Versorgung wegweisend geworden. 1996 waren in Deutschland 28
Palliativstationen und -einheiten sowie 30 stationäre Hospize für Erwachsenen verzeichnet, im April 2016
zählt man 304 Palliativstationen und -einheiten sowie 235 stationäre Hospize für Kinder, Jugendliche und
Erwachsene. Zwischenzeitlich hat sich der Wissensbestand zur Trias Sterben, Tod und Trauer vervielfacht.
Aber die Emphase der 1970er Jahre ist verflogen.
„Fasst man den aktuellen Wissensbestand über den neuzeitlichen Umgang mit dem Tod zusammen, so lässt
Letzterer sich als Geschichte seiner allmählichen »Entzauberung« fassen und mit Stichwörtern wie
Individualisierung, Säkularisierung, Professionalisierung und Ökonomisierung charakterisieren. Die
Entwicklung vollzog sich vor allem in den Städten […]. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit veränderte
zunächst der aufkommende Protestantismus die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten. Erstmals wurde
der traditionelle Kirchhof – der Begräbnisplatz um das Gotteshaus – aufgegeben und Friedhöfe vor den Toren
der Städte angelegt […]. Im Zeitalter der Aufklärung siegte dann der Hygienediskurs über kirchliche
Traditionen […]. Im späten 18. Jahrhundert entstanden die ersten Leichenhallen […]. Im […] 19.
Jahrhundert […] entwickelten sich die Friedhöfe zu repräsentativen Stätten der urbanen Gesellschaft […]. In
der Zeit des deutschen Kaiserreiches wurden Park- und Waldfriedhöfe zu Gesamtkunstwerken mit
ausgesprochen weltflüchtiger Ästhetik modelliert […]. Das 20. Jahrhundert war geprägt vom
millionenfachen Kriegstod […] und der systematischen Massenvernichtung in der Zeit der in NS-Diktatur.
Die Technisierung des Todes zeigte in den Krematorien der nationalsozialistischen Konzentrationslager ihre
fast zynisch zu nennende Ambivalenz […]. So verwundert es nicht, dass – zumindest in Deutschland –
Narrationen über den Tod nach dem Ende von NS-Diktatur und Zweiten Weltkrieg allenfalls im fast
Verborgenen der Privatsphäre gediehen, nicht aber die gesellschaftliche Öffentlichkeit erreichten“ (Norbert
Fischer, Reiner Sörries S. 250 f.). Zwischenzeitlich ist der Tod in den Medien allgegenwärtig, die Forschung
zum Themenkreis boomt und die Palette der Bestattungs- und Erinnerungskultur ist deutlich breiter
geworden.
Seit 2010 werden am Historischen Seminar der Universität Hamburg in Kooperation mit dem Zentralinstitut
und Museum für Sepulkralkultur in Kassel jährlich Workshops unter dem Titel transmortale organisiert. Sie
dienen dem Austausch der an dem Themenkreis interessierten Forscher und Praktiker. Sie wollen aktuelle
Forschungsansätze disziplinübergreifend verknüpfen. Und sie geben wie der jetzt vorliegende Band jüngeren
Forscher eine Möglichkeit zur Publikation. In den locker unter den Überschriften Orte für Tote, Umgang mit
dem Tod, Gefühle zu Tod und Sterben und Vor-/Darstellungen vom Tod zusammengeführten Kapiteln des
Bandes wird die Breite der neueren Forschung zum Themenbereich Sterben, Tod und Trauer deutlich.
So werden im Kapitel Orte für Tote utopische Konzepte monumentaler Urnenanlagen des 18. bis 20.
Jahrhunderts (Anna-Livia Pfeiffer) ebenso verhandelt wie Vorstellungen vom Nachleben in sozialen
Netzwerken und digitalen Räumen (Eva Mieder) und der Vorschlag von Dominik Gerhard Sieber, die
sogenannten Camposanto-Anlagen neu zu fassen: „Zusammengefasst charakterisiert den Camposanto-Typus
gemäß dem gegenwärtigen Forschungsstand überwiegend einen protestantischen Bestattungsplatz, der extra
muros, von einer Kirche losgelöst angelegt und von einer rechteckigen Umfriedung in Gestalt von
(partiellen) Säulen – bzw. Arkadenhallen umgeben ist“. Siebers Streifzug durch die mittel- und oberdeutsche
Friedhofslandschaft zeigt, dass „die bisherigen Camposanto-Merkmalsdefinitionen kaum zu halten sind.
Weder sind diese Anlagen zwingend extra muros zu finden, noch von Sakralbauten separiert und schon gar
nicht als genuin protestantischer Ausdruck evangelischen Bewusstseins respektive Sepulkralkultur
anzusprechen […]. Die genauere Genese des frühneuzeitlichen Friedhofs oder Composantos ist bislang nicht
abschließend geklärt“ (Dominik Gerd Sieber S. 31, S. 40f.).
Im Kapitel Umgang mit dem Tod wird neben der komplexen Genese des Bestattungswesens in Berlin
(Stephan Hadraschek) und der Neuinszenierung der Bestattungskultur im atheistisch orientierten Ungarn und
in der DDR auch das sie isolierende Leben der Doms beschrieben, die die Leichen an den
Verbrennungsplätzen am Ganges versorgen. Während der Verbrennungen erleben sie sich als mächtig. „In
dem Moment, da die Familie ihre Pflichten am Verbrennungsplatz getan hat und davon geht, endet die
Macht […]. Das Ende der transitiven Phase (van Gennep) bedeutet für den Dom den absoluten Machtverlust.
Nur im kurzen Moment der Rollenverkehrung zwischen Etabliertem und Außenseiter haben die Doms ein
Gefühl von sozialer Gerechtigkeit. Ansonsten sind sie soweit im sozialen Abseits, dass keinerlei Kampf um
eine Verbesserung der Machtsituation stattfindet. Die Doms haben sich darauf eingestellt, dass sie außerhalb
ihrer Arbeitszeit auf den Verbrennungsplatz nichts an den Hierarchieverhältnissen ändern können. Ihre
Resignation äußert sich in ihrem Sarkasmus und ihrem Alkoholgenuss […]. Alkoholismus, Humor,
Sauberkeit und Zynismus können als inkorporierte Kultur unausweichlicher Stigmatisierung bezeichnet
werden“ (Sophia Siebert S. 123). Im dritten Kapitel wird 50 Jahre nach Kübler-Ross diskutiert, ob sich
Trauer als Krankheit beschreiben, wissenschaftlich definieren, quantifizieren und in zeitlich abgrenzbare
Normalverläufe fassen lässt (Inga Schaub). Weitere Aufsätze thematisieren Formen der Trauerkultur im
bürgerlichen Italien des ausgehenden 19. Jahrhundert (Moritz Buchner) und Bestattungswünsche
Hochaltriger im beginnenden 21. Jahrhundert (Antje Mickan). Im letzten Kapitel geht es unter anderem um
die Vor- und Darstellung des Todes im Tanztheater, in den Filmen der Final-Destination- Reihe und um
Todesstimmungen in der neuen Musik.
ham, 31. Mai 2016