Begrüßung: Helmut A. Müller
Erstmalig wird der Erich Fromm-Preis 2016 einem Ehepaar zugesprochen. Er geht an Christel und Rupert Neudeck, die Mitbegründer von Cap Anamur / Deutsche Notärzte e. V. und des Friedenscorps Grünhelme. Der Preis würdigt das bald vierzigjährige ehrenamtliche Engagement des Ehepaars für Flüchtlinge und Menschen in Not in über 50 Ländern, erinnert daran, dass Migration zur Conditio humana gehört und ruft darüber hinaus auch die Flucht von Erich Fromm im Jahr 1934 vor den Nationalsozialisten und seinen Einsatz für jüdische Verwandte und Bekannte in Amerika in Erinnerung.
Christel und Rupert Neudeck sind seit 1970 verheiratet. Sie haben nicht nur drei Kinder miteinander großgezogen und ein Reihenhaus in Troisdorf gebaut, sondern immer auch an der Vorstellung festgehalten, dass humanitäres Engagement ehrenamtlich sein muss, ohne Bezahlung und neben dem Beruf, um unabhängig bleiben zu können. Vieles hat sich bei ihnen deshalb mit verteilten Rollen zwischen Freitagabend und Montag früh abgespielt. Mit den Jahren ist Christel Neudeck neben ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau zu Rupert Neudecks engster Mitarbeiterin, Ratgeberin, Vertrauten, Generalsekretärin und Organisatorin der häuslichen Planungs- und Diskussionsrunden geworden. Gefragt, warum er auch noch im Alter nicht aufhören kann zu helfen, verweist Neudeck auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter und auf die als Muss empfundene Verpflichtung, etwas von der Hilfe zurückzugeben, die er auf und nach der Flucht empfangen hat.
Für den 1939 in Danzig geborenen Rupert Neudeck muss die für 30. Januar 1945 mit der Wilhelm Gustloff aus dem Hafen von Danzig geplante Flucht vor der Roten Armee zum Urerlebnis geworden sein, das sein späteres Engagement unter- und tiefgründig prägt. Der Onkel hatte noch Karten für die letzte mögliche Überfahrt über die Ostsee in den Westen für die Großmutter, Mutter, Tante, seine drei Brüder und ihn besorgen können. Aber die Familie hat das Schiff nicht mehr erreicht. Sie überlebte, weil sie zu spät gekommen ist. Drei Stunden nach der Ausfahrt aus dem Danziger Hafen wurde die Wilhelm Gustloff von drei russischen Torpedos getroffen; die meisten der wohl um die 10 000 Passagiere kamen ums Leben. Neudeck erinnert sich noch heute an die Wärme beim Übernachten im Seemannsheim und an das Gefühl, behütet zu sein.
Als er 1978 zum ersten Mal von den vietnamesischen Bootsflüchtlingen hört, ist ihm klar, dass er unbedingt helfen muss. Der gelernte Theologe, zeitweilige Jesuit, promovierte Philosoph und ein Leben lang als Journalist arbeitende Neudeck kann Heinrich Böll und seine Frau Christel für die Gründung des Komitees „Ein Schiff für Vietnam“ gewinnen, aus dem 1982 das Komitee Hilfsorganisation Cap Anamur / Deutsche Notärzte e. V. geworden ist. Mit dem Frachter Cap Anamur konnten über 11 000 vietnamesische Bootsflüchtlinge aus dem südchinesischen Meer gerettet, nach Deutschland gebracht, trotz erheblicher bürokratischer Widerstände willkommen geheißen und gesellschaftlich integriert werden. Vom Komitee wurden Krankenhäuser in Vietnam, Ambulanzen in Kolumbien und Äthiopien, Hospitäler u. a. im Nordirak und Tschetschenien gegründet und darüber hinaus die erste Kampagne gegen Landminen ins Leben gerufen.
Das Wohnzimmer der Familie ist in dieser Zeit zur Organisationszentrale geworden. Dort wurden die weltweiten Einsätze geplant und die Arbeit der Freiwilligen koordiniert. Von dort aus wurden auch die allfällig notwendigen Spenden angeworben. Wenn Rupert Neudeck seine Mitstreiter mit seiner Radikalität polarisiert und überfordert hat, haben der Humor und der Optimismus seiner Frau Christel und gelegentlich auch eine Umarmung weitergeholfen. Die Arbeit für Cap Anamur gab ihr die Möglichkeit, bei ihren Kindern zu sein und trotzdem zu arbeiten. 1998 gibt Neudeck den Vorsitz des Komitees ab und 2003 die Funktion des Sprechers.
Die Folgen des Terroranschlags vom 11. September 2001 bewegen Christel und Rupert Neudeck dazu, im April 2003 das internationale Friedenscorps Grünhelme e. V. zu gründen, in dem junge deutsche Christen und Muslime Häuser, Dörfer, Schulen, Straßen, Hospitäler, Ambulanzen, Baumschulen, Gotteshäuser aufbauen, die andere in Krisen- und Kriegsgebieten zerschlagen haben.
Zu den Projekten gehört unter anderem auch eine Solaranlage auf dem „Tent of Nations“ in der Farm der Familie von Daouk Nassar in der Nähe von Bethlehem. Die Solaranlage macht die dortige Begegnungsstätte unabhängiger und erlaubt es noch mehr Menschen, sie zu besuchen. Nach mehren Reisen nach Israel und in die palästinensischen Autonomiegebiete ist Neudeck davon überzeugt, dass Dietrich Bonhoeffers Ausspruch von 1935 im Predigerseminar in Pommern „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ heute lauten würde: „Nur wer für die Palästinenser schreit, darf für Israel eintreten“. Sein radikales, zuweilen widerständiges Engagement für Humanität lässt ihn für Israel fast mehr besorgt sein als für die Palästinenser, „die nichts haben und ihren Staat gewinnen werden. Aber ein Staat wie Israel, der nicht begreift, dass er nicht Generationen lang nur mit seinen Waffen alle Nachbarn in Schach halten kann, ist verloren. Israel gefährdet sich mehr selbst als es andere von außen tun können. Vielleicht nicht heute, aber auf Dauer […]. Die Grünhelme werden im ersten Moment, da der Gazastreifen frei wird und wir ihn aufsuchen dürfen, sich mit eigenen Bautechnikern am Wiederaufbau beteiligen. Wir werden auch den abnorm friedlichen und geradezu nostalgisch und utopisch wirkenden Plan nicht aufgeben, an der Küste des Gaza Streifens die Jugend der Welt aufzurufen, dorthin zu kommen und den ersten Marathonlauf an der (42 km langen) Küste für den Frieden und die gute Zusammenarbeit zwischen Palästinensern und Juden zu veranstalten. Die jungen Palästinenserinnen der deutsch-katholischen Schmidt-Schule in Ost-Jerusalem – die ich zweimal 2012/13 besucht habe – trainieren schon dafür. Wir werden sie nicht enttäuschen.“ (Rupert Neudeck am 1.8.2014 in: https://gruenhelme.de/nur-wer-fur-die-palastinenser-schreit-darf-furisrael- eintreten/.)
Seine bei der Integration der vietnamesischen Bootsflüchtlinge gewonnenen Erfahrungen haben ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass Migranten sich nach nichts mehr als nach Sicherheit und Geborgenheit sehnen, selbst für ihr Aufkommen sorgen wollen und es für sie das Schwierigste ist, über Monate still gestellt zu werden. Nach der Tsunami-Katastrophe ist er schon 2009 zusammen mit Franz Alt und anderen für einen weltweiten Marshallplan für Arbeit, Entwicklung und Freiheit in den Katastrophen-, Kriegs- und Krisengebieten der Welt eingetreten und für nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe. Erst radikale Humanität, radikales Um-denken und der globale Verzicht auf Folter, Diskriminierung und Verschwendung werden nach seiner Auffassung die Weltgesellschaft überlebensfähig machen.
Auch Erich Fromm musste 1934 vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten fliehen, weil er als gebürtiger Jude und bekennender Marxist in Deutschland um sein Leben bangen musste. In den Jahren bis 1940 besorgte Fromm Dutzenden von jüdischen Verwandten ein Affidavit und bürgte für Ihr finanzielles Auskommen, damit sie Deutschland noch verlassen konnten. Was es heißt, nicht mehr fliehen und keine Fluchthilfe mehr leisten zu können, hat Fromm dennoch erfahren: Viele der zahlreichen Verwandten starben in den Vernichtungslagern der Nazis oder wurden von ihnen umgebracht.
Die Erfahrungen, das eigene Leben durch Flucht retten zu müssen, hat sich tief in das Denken und Wirken Erich Fromms und in das von Christel und Rupert Neudeck eingeprägt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie trotz der auf der Flucht erfahrenen Abbrüche, Ausgrenzungen und notwendigen Neuanfänge das Leben weiter lieben und sich an die Seite derer stellen, die als Migranten neue Wurzeln und Beheimatung suchen. Migration gehört zur Conditio humana wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit und Tod. Für Erich Fromm zählt das sich bei allen Migranten einstellende Bedürfnis nach neuer Verwurzelung zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Die Verleihung des Fromm-Preises 2016 an Christel und Rupert Neudeck setzt ein Zeichen für dieses Grundbedürfnis und unterstreicht das in Artikel 16 (2) des Grundgesetzes festgehaltene Recht auf Asyl