C.H. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-67430-3, 496 Seiten, 40 Abbildungen, Sach-, Personen-, Ortsund
Bibelstellen-Register, Leinen gebunden mit Schutzumschlag, Lesebändchen, Format 22,2 x 14,8 cm,
€ 29,95 (D) / 40,90 (SFR) / € 30, 80 (A)
Mit am erstaunlichsten an Jan Assmanns groß angelegter Sinngeschichte des Exodus ist sein nicht hoch genug zu veranschlagender Mut, das 2. Buch Mose als Ägyptologe zu lesen, seine Profession als voraussetzungsreichen, aber möglichen Zugang zum Exodus, seinen Quellen und seiner Wirkungs- und seiner Rezeptionsgeschichte zu verstehen und den Exodus-Mythos nach Studium und Lektüre in der Tradition des protestantischen Christentums eigenständig zu deuten. Dass er dabei die verwirrend komplexen und kaum mehr zu übersehenden literatur- und religionsgeschichtlichen Rekonstruktionsversuche des 2. Buch Mose und ihre Einbettung in die Geschichtswerke des Hexateuch, des Tetrateuch und des Pentateuch mehr oder weniger außen vor lässt, steht auf einem anderen Blatt. Wer sich für Letzteres interessiert, wird unter anderem bei Eckart Otto, Pentateuch im RGG Band 6 N – Q, vierte Auflage, Tübingen 2003, Sp. 1089 – 1102 fündig. „Mein Zugang ist naturgemäß nicht der des philosophisch und theologisch arbeitenden Alttestamentlers, sondern des kulturwissenschaftlich arbeitenden Ägyptologen, und mein methodischer Ansatz ist der einer «Sinngeschichte». Ich verstehe den in der Überlieferung vom Auszug aus Ägypten entfalteten Monotheismus der Treue bzw. die Bundestheologie als eine Sinnformation, die mit den frühen Propheten anhebt, im Deuteronomium und der deuteronomistischen Tradition ihre kanonische Form gewinnt und durch alle Wandlung hindurch bis heute lebendig ist. Der Begriff «Sinngeschichte» lässt sich in zwei Richtungen entfalten: Sinn «hat» Geschichte und Sinn «macht» Geschichte […]. Die Position, von der aus ich es in diesem Buch unternehme, die so unendlich oft erzählte, kommentierte, gedeutete und gestaltete Exodus-Tradition in «sinngeschichtlicher» Hinsicht zu behandeln, ist die teilnehmende Beobachtung. Teilnehmend, weil auch das protestantische Christentum, aus dem ich komme, in der Tradition des Exodus- Mythos steht, teilnehmen aber auch als Deutscher, als Nachgeborener der schwersten Katastrophen und Verbrechen meines Landes […]. Beobachtend, weil die Ägyptologie einen signifikanten Standpunkt sowohl inner- als auch außerhalb dieser Tradition vermittelt. Schließlich ist es ja Ägypten und nicht etwa Assyrien, Babylon, das Hethiterreich oder irgend ein anderes Reich der damaligen Welt, aus dem die Kinder Israels ausgezogen sind“ (Jan Assmann S. 13 f.).
„Von Ägypten aus lassen sich zwei ganz verschiedene Blicke auf die Hebräische Bibel werfen. Der eine sieht vor allem die Kontinuitäten und Parallelen […]; der andere achtet vor allem auf die Diskontinuitäten, Antithesen, Verwerfungen und sieht in Israel vor allem das Neue, das sich den Ordnungen der Alten Welt als etwas radikal Anderes entgegenstellt und damit den Grund zu der Welt legt, in der wir heute leben […]. Dieses Buch will weder eine Nacherzählung noch ein Kommentar sein […]. Warum es mir aber vor allem zu tun ist, ist eine «resonante Lektüre», eine notwendigerweise recht subjektive Lektüre der biblischen Texte, in der möglichst viel von dem anklingt, was mir aus meinen ägyptologischen und allgemein kulturellen Interessen und geschichtlichen Erfahrungen vertraut geworden ist“ (Jan Assmann, S. 15). Die schon ein Jahr nach ihrem Erscheinen in dritter Auflage vorliegende Publikation ist in der theologischen Fachwissenschaft anders als Assmanns 1997 in der Harvard Press in Cambridge, Mass., und 1998 bei Carl Hanser auf Deutsch erschienene Monographie Moses der Ägypter überwiegend freundlich aufgenommen worden. Das liegt vor allem daran, dass Assmann seine 1997 noch mit der „mosaischen Unterscheidung“ von wahrer und falscher Religion verbundene These von der Gewaltbereitschaft der monotheistischen Religionen neu chiffriert hat. „Den Begriff der «mosaischen Unterscheidung» habe ich in meinem Buch Moses der Ägypter […] eingeführt […]. Ich verstehe darunter die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, die – das war die These – erst mit dem biblischen Monotheismus in den Raum der Religion eingedrungen ist. Erst die Bibel und die auf die ihr aufbauenden Religionen unterscheiden zwischen wahrem Gott und falschen Göttern […]. An der These würde ich nach wie vor festhalten; in der Exodus-Überlieferung aber spielt die Unterscheidung zwischen wahr und falsch keine Rolle, und man sollte sie deshalb auch nicht «mosaisch» nennen […]. Die dominierende Unterscheidung, die mit dem, wofür der Name Mose steht, in den Raum kommt, ist die zwischen Treue und Verrat“ (Jan Assmann, S. 106). Friedrich Wilhelm Graf hat völlig zurecht darauf hingewiesen, dass die den monotheistischen Religionen von Assmann unterstellte Gewaltbereitschaft nicht zurückgenommen, sondern lediglich auf das etwa kompliziertere Treue-Untreue-Verhältnis zwischen dem Volk und dem Gott Israels verlagert ist. Religiös motivierte Gewalt findet sich aber auch in den polytheistischen Religionen. Andere fragen, ob sich der von Assmann als revolutionär gedeutete Exodus-Mythos nicht auch evolutionär erklären lässt. Mythen „haben eine lebensbegründende und lebenserschließende Kraft und werfen Licht auf Situationen und Erfahrungen, die mit Sinn und Orientierung erfüllen. Mythen sind narrative Kerne, deren vielförmige Ausgestaltung Gesellschaften, Gruppen und auch einzelne Individuen dazu verhilft, eine Identität auszubilden, das heißt, zu wissen, wer sie sind und wohin sie gehören, und komplexe Situationen und Lebenskrisen zu bewältigen. Im Licht des Osiris-Mythos zum Beispiel haben die Ägypter den Tod kulturell verarbeitet und im Licht des Ödipus-Mythos […] hat Sigmund Freud die Neurosen seiner Patienten verstanden und behandelt.
Das Buch Exodus widmet sich den beiden wichtigsten Fragen, die die Menschen von jeher beschäftigen: der Frage nach Gottes Nähe und der Frage wer «wir» sind. Die beiden Fragen gewinnen im Licht des Exodus- Mythos eine ganz spezifische Form und hängen unauflöslich zusammen, denn wer «wir» sind, bestimmt sich danach, was Gott mit «uns» vorhat. In dieser Form scheinen sich die Ägypter diese Fragen nie gestellt zu haben. Sie haben sich als «Menschen» verstanden, nichts Besonderes, zusammen mit allen anderen Lebewesen inklusive Gottheiten im Zuge der Weltentstehung aus Gott hervorgegangen, der seinerseits nichts Besonderes mit ihnen vorhat, sondern nichts anderes anstrebt, als die aus ihm hervorgegangene Welt in Gang zu halten, wobei ihn die «Menschen» mit ihren Riten unterstützen können. Die Geschichte erschien nicht als ein Projekt, das sich in Verheißungen und Erfüllungen entfaltet, sondern eher als ein Prozess, der durch kulturelle Formung mit den mythischen Ur-Mustern in Einklang gehalten und dadurch vor Veränderungen bewahrt werden muss. Der Exodus-Mythos dagegen erzählt von den Kindern Israels, die Gott aus ägyptischer Knechtschaft befreit und aus den Völkern erwählt, um mit ihnen zusammen das Projekt einer gerechten Gesellschaft zu verwirklichen. Ein größerer Unterschied lässt sich kaum denken. Der ägyptische Mythos erzählt von der Welt und ihrer Gründung, der biblischen Exodus-Mythos dagegen erzählt von etwas ganz Neuem und dessen Gründung innerhalb der längst entstandenen, vorgegebenen Welt. Das weltverändernd Neue entsteht im Licht dieses Mythos auf zweierlei Weise: durch Revolution und Revelation, Umsturz und Offenbarung. Um Israel zu befreien, hat Gott die ägyptische Unterdrückung gewaltsam zerschlagen, und um es zum Gottesvolk zu erwählen und mit ihm den Bund einer neuen Religion zu schließen, hat er sich ihm offenbart und ihm seinen Willen kundgetan (Jan Assmann S. 20 f.) […]. Das Buch Exodus spannt einen narrativen Bogen vom äußersten Elend zu höchster Erwählung, von der ägyptischen
Sklaverei zum befreienden Gottesdienst, von der Gottesferne der ägyptischen Unterdrückung zur Vereinigung mit Gott […]. Der Einzug, der dem Auszug erzähllogisch entspricht, findet […] nicht in Kanaan statt, sondern in der Errichtung des Zeltheiligtums. Genau genommen handelt es sich um den Einzug Gottes in die Wohngemeinschaft mit seinem Volk […]. An die Stelle von Tempel und Stadt treten Zelt und Lager, und an die Stelle von Raumordnung und Ortsbindung treten Mobilität, Unterwegssein und Richtung (mit dem Ziel des Gelobten Landes). Vor allem aber tritt an die Stelle des Kultbilds die unvermittelte, lebendige Einwohnung Gottes in Gestalt seiner kāvôd (seiner «Herrlichkeit») in der Wolke, seines Wortes und seiner Weisung (Tora). Diese Form der Gottesgegenwart wird durch das Bild nicht vermittelt, wie in Ägypten und Babylonien, sondern zerstört […]. Der Tempel, um den es hier geht, nimmt in zweierlei Hinsicht die Erfahrung des Exils auf: In der Form des Zeltes lässt er sich überall aufschlagen und ist nicht an einen heiligen Ort gebunden. Den heiligen Ort bildet vielmehr das Volk selbst, das sich durch Einhaltung der Gebote und Gesetze heiligt, so dass Gott ihm einwohnen kann. […]
Damit entsteht ein Begriff von Religion, der sich in der Welt durchgesetzt und die Welt verändert hat. […] Religion wird nun von «Kultur» unterscheidbar und ihr als kritische Instanz gegenübergestellt, zugleich aber auch – zumindest der Möglichkeit nach – als ein hegemoniales Prinzip allen anderen «Wertsphären» wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst usw. übergeordnet. In diesem Sinne lässt sich […] die Exodus-Erzählung als die «grandioseste und folgenreichste Geschichte» verstehen, die sich Menschen jemals erzählt haben. Sie erzählt von einer Wende, die sie dann im Zuge ihrer Nacherzählungen und Umdeutungen selbst herbeigeführt hat, und ist zum narrativen Muster und Symbol grundlegender geistiger, religiöser und politischer Wenden überhaupt geworden“ ( Jan Assmann S. 401 f.)
ham, 27.1.2016