Klett-Cotta, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-608-94887-5, 410 Seiten, gebunden, Leinen mit Goldprägung,
transparente Schutzhülle, 2 Lesebändchen, zweifarbiger Druck, Format 24,4 x 16,5 cm, € 49.50
Robert Spaemann lässt mit seinen Meditationen über die ersten 51 Psalmen an einem Werk teilhaben, das er eigentlich für sich selbst geschrieben hat. Es sind „die Gedanken eines Laien, eines offenbarungsgläubigen Christen und vernunftbegabten Philosophen, Gedanken, die keinerlei Kompetenz beanspruchen und niemand überzeugen wollen, aber mir bei der betenden Aneignung der Psalmen hilfreich waren“ (Robert Spaemann S.8). Sein hermeneutischer Schlüssel ist die Überzeugung, dass die Psalmen prophetisch auf Jesus als den Christus vorausweisen und messianisch kodiert sind. Ihr Gebrauch als Gebetbuch der Christen und der Kirche hebt für ihn den Gebrauch durch den „älteren Bruder“ nicht auf. „Die christliche Aneignung des Alten Testaments ist niemandes «Enteignung» […]. Der ältere Bruder im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist immer beim Vater geblieben […]. Der Vater, der für den Heimgekehrten ein Fest feiert, nimmt dessen älterem Bruder nichts weg. Aber das Fest ist nicht, was es sein könnte, so lange der ältere nicht mitfeiert und die «versprengten Kinder Gottes» (Joh 11,52) als «Anbeter im Geist» (Joh 4,24) im durch Christus erneuerten Israel willkommen heißt. Die Christen aber glauben sich vom Vater ermächtigt, in der Liturgie der Osternacht von «unseren Vätern» zu sprechen, die «in dieser Nacht aus Ägypten befreit wurden». Und sie halten sich für berechtigt, in dieser Nacht Gott zu bitten, dass «die Fülle der ganzen Welt eingehe in die Kindschaft Abrahams und die Würde Israels»“ (Robert Spaemann S. 10). Dass er sich in seinen Meditationen der frommen Sprache der Glaubenserfahrung und nicht der verobjektivierenden Sprache der Wissenschaft bedient, begründet der 1927 in Berlin geborene große Wertkonservative so: „Religion hat eine «fromme» Innenseite und eine psychologische, soziologische, kulturwissenschaftliche und phänomenologische Außenperspektive. Lebendig ist eine Religion nur kraft ihrer Innenseite. Wie es ist, verliebt zu sein, kann uns keine Psychologie oder Kultursoziologie nahebringen. Wir müssen es schon erfahren haben. Aber es gehört zum Bildungsprozess des Menschen, von der Außenseite seines Erlebens zu wissen und beide Sprachen sprechen zu können, ohne sie zu vermischen. Die «Meditationen» sprechen die fromme Sprache der Glaubenserfahrung, die durch die Zudringlichkeit der Außenperspektive angefochten und beirrt wird, ohne jedoch vor ihr zu kapitulieren“ (Robert Spaemann S.10 f.). Die gewählte Innenperspektive hindert Spaemann aber nicht daran, sich der Ergebnisse der historisch – kritischen
Erforschung der Bibel zu bedienen, wenn sie in seine Vorstellung von der Innenwelt des Glaubens passen, und seine in seinem Lebenswerk gewonnen Vorstellungen von Mensch und Welt in seine Auslegungen einfließen zu lassen.
So findet er seinen Zugang zum glückseligen Mann, „der am Gesetz des Herrn seine Lust hat und es Tag und Nacht betrachtet“ (Psalm 1, 1f.), über das Bild einer Landkarte, die die erfreut, die umherirren. Aber es ist „noch zu dürftig. Das richtige Leben ist ja nicht mit dem bloßen Finden eines Wegs nach bekannten Methoden zu vergleichen. Zum richtigen Leben gehört auch das Erlernen der Methoden selbst, zum Beispiel des Kartenlesens oder aber des Lesens überhaupt. Die Sprache im Rat der Gottlosen ist nicht die Sprache der Seligen. Die «Betrachtung im Gesetz des Herrn» ist zugleich dem Studium einer Grammatik, dem Vokabellernen, dem Üben eines Instruments, dem Sich-Versenken in eine Bilderwelt vergleichbar. Die Weisung des Herrn ist die Offenbarung einer Welt, der Welt im Lichte Gottes. Dies freilich nicht als theoretische Belehrungen, sondern als Anweisung zum Einüben. Das Gesetz des Herrn ist die Partitur des richtigen Lebens. Es sind Noten zu einer Musik, die man nur hört, indem man sie zugleich spielen lernt“ (Robert Spaemann S. 16 f.). Zum Spielen dieser Musik gehört die vor Gott bedachte Unterscheidung zwischen einer Welt, die Gott kennt und einer Welt, die spricht «Es ist kein Gott!» (Psalm 14, 1). „ Wo gelebt wird, etsi Deus non daretur, als wenn kein Gott wäre, da schwindet dann oft das Bewusstsein davon, dass Er ist […]. Der Beter fängt nun nicht mit dem Gottleugner einen Disput an. Er beweist nicht die Existenz Gottes […]. Ihn interessiert, was der Mensch, für den Gott nichts ist, für Gott ist. Ihn interessiert die Welt, wie sie von Gott aus betrachtet aussieht. «Gott schaut vom Himmel auf die Menschenkinder.» Was sucht er? Er sucht jemanden, der sucht, einen «Verständigen», im Gegensatz zu dem «Toren» […]. Und nun sagt der Psalm, wie es Gottes suchendem Blick ergeht: Er begegnet keinem Blick. Er findet keinen, der nach Gott Ausschau hält, keinen, der die Welt vom Blick Gottes her zu verstehen sucht, keinen, der Gutes tut, «auch nicht einen einzigen» […]. Der Blick Gottes, von dem hier die Rede ist, ist nicht nur den Toren entgegengesetzt […]. Der Tor […] ist nicht die Ausnahme, die Abweichung von der Normalität des Lebens. Er bringt vielmehr das Wesen dieser Normalität zur Erscheinung […]. Wir brauchen nur einmal zu überlegen, was wir täten, wenn in diesem Augenblick Christus, der Auferstandene, in seiner Herrlichkeit sichtbar neben uns stünde. Wir würden das meiste von dem, was wir tun, anders tun, und würden sehr viel anderes tun. Die Ferne Gottes, die mangelnde Transparenz der irdischen Dinge für den Grund ihres Seins, ist ja in Wirklichkeit die Folge der Trübung unseres Blicks. Und dies ist eine Folge davon, dass wir Gott nicht suchen, wie wir es täten, wenn wir wären, wie wir sein sollten. Diese falsche Normalität nennen wir die Erbsünde. «Keiner ist, der Gutes tut, auch nicht ein einziger.»“ (Robert Sparmann S. 106 ff.).
Es wäre spannend, mit Robert Spaemann in ein weitergehendes Gespräch über die Frage einzutreten, ob und inwiefern es angebracht ist, den Begriff der Erbsünde in eine Meditation über die Psalmen einzutragen, obwohl der Begriff in der gesamten Bibel fehlt; und ob er überhaupt noch weiter tradiert oder vielleicht doch besser aufgegeben werden sollte, wie es Karl Barth, Paul Tillich und Gerhard Ebeling vorgeschlagen haben. Ebenso spannend wäre die Frage, ob ein in seine Meditationen aufgenommener paralleler jüdischer Blick seinem messianischem Zugriff auf die Psalmen geschadet, genützt oder sie zumindest hilfreich für andere Sichtweisen geöffnet hätte. Aber vermutlich hat der in öffentlichen Grundsatz- und Wertedebatten nach wie vor streitbare Philosoph diese und vergleichbare andere Fragen an die Innenseite des Glaubens für sich selbst schon lange beantwortet und will sie deshalb nicht mehr öffentlich diskutieren. Sonst hätte er seine Meditationen wohl auch nicht vor allem für sich selbst geschrieben und würde mutmaßlich auch andere für seine Innensicht des Glaubens gewinnen wollen.
ham. 12.1.2015