Gesammelt von Axel Matthes mit Originalbeiträgen u.a. von Constantin von Barlöwen, Botho Strauß, Hans-
Jürgen Syberberg und Hanns Tischler
Diederichs Verlag, München 2012, ISBN 978-3-424-35067-8, 572 Seiten, 30 s-w-Abbildungen Hardcover
mit Schutzumschlag, Format 22 × 14,5 cm, € 29,99 (D) / € 30,90 (A) / CHF 39,90
Klassische fachwissenschaftliche Abhandlungen über das Heilige findet man bei Religionswissenschaftlern
wie Rudolf Otto oder Mircea Eliade, Theologen wie Karl Barth oder Karl Rainer, Religionsphilosophen wie
Gianni Vattimo, Psychologen wie William James und Soziologen wie Max Weber. Nach Héctor Canal, Maik
Neumann, Caroline Sauter, Hans-Joachim Schott ist mit Nietzsches Proklamation des Todes Gottes das
Nachdenken über das Heilige nicht etwa verschwunden, sondern von den Sakral- in die Gesellschafts- und
Sozialwissenschaften, die Politik, die Geschichtsschreibung, die Künste und die Literatur eingewandert.
„Das Heilige wird dabei sowohl im kulturtheoretischen und philosophischen Diskurs als auch in den
Künsten, insbesondere der Literatur, zunehmend zu einer Denkfigur und zu einer Chiffre ihrer eigenen
Poetik … Es entstehen in der Kunst und in der Philosophie Inszenierungen und Codierungen des Heiligen,
d.h. spezifische Schreibweisen und Rhetoriken, die die Form ›heiliger Texte‹ oder sakraler Traditionen
aufnehmen, thematisieren, subvertieren und profanieren … Jeder deklarierten Säkularisierung zum Trotz
zeigen sich also in der Moderne Phänomene, die als ›heilige‹ beschrieben werden oder die dem ›Heiligen‹
zugeschrieben werden können: etwa Phänomene charismatischer Herrschaft, formale oder diskursive
Elemente, die sakrale Praktiken oder Poetiken aufgreifen, oder eine Wiederkehr ritualisierter
Verhaltensweisen im politisch-gesellschaftlichen Handlungsraum“ (Héctor Canal, Maik Neumann, Caroline
Sauter, Hans-Joachim Schott >Hg.<, Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie
und Literatur des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2013, S. 7f.). Der Sammelband „Das Heilige (in) der Moderne“
will die Säkularisierung des Heiligen aufzeigen, beschreiben, analysieren und in Zusammenhänge
einordnen.
Der Herausgeber der Anthologie „Das Heilige im Alltag oder Vom Swing der Dinge“ ist an einer
vergleichbaren Analyse wenig interessiert, obwohl er in der Sache genau so breit ansetzt, alles Lebendige für
heilig und das Sakrale nicht a priori für theistisch hält. Die in dem Band versammelten Texte wurden bei
Dichtern, Literaten, Künstlern und Philosophen gesucht und gefunden. Matthes interessiert das Erleben von
Momenten, in denen sich die Dinge und Verhältnisse von einem Augenblick auf den anderen ändern und in
einem völlig neuen Licht zeigen können, mehr als das Analysieren. Ihm kommt es auf das tatsächliche
Erleben an. Ergriffenheit und Erschütterung, wie sie in zwei Strophen eines Eichendorff -Gedichts nach dem
frühen Tod seines Kindes aufscheinen, sind ihm wichtiger als 1000 Seiten eines Theoretikers. Für Matthes ist
es ein „weit verbreiteter Irrtum, dass es für jedes Problem eine spezielle Wissenschaft und einen speziellen
Experten gibt, der die nötige Antwort in einem Buch bereitstellen kann. Sogenannte spirituelle Erfahrungen
(ein Erleben, Impulse also, von Überrumpelung bis Erleuchtung, Entrückung), solches Empfangen lässt sich
nur als Annäherung an symbolische Wirklichkeiten fassen, wiedergeben, gestalten: als sichtbare
Lebenswirklichkeit eines Unsichtbaren, ein Verwirklichen im Bild“ (Axel Matthes, Das Heilige im Alltag, S.
546). Deshalb setzt er auf Primärliteratur. Er will seine Anthologie weder als didaktisches Buch, noch als
Ratgeber und auch nicht „als Kunststück am Bildungstrapez“ verstanden wissen, sondern als gesammelte
Erfahrungsberichte, Erlebnisse. „So wie man bei einem Ofen mit dem Schürhaken … die Glut wieder reizt,
so möchte dieses Buch … jedem Leser die Glut seiner eigenen Tour wieder reizen“ (Axel Matthes im
Gespräch mit Ulla Zierau, SWR Kulturgespräch am 26.11 2012). Den ersten Anstoß zur Sammlung gab
Michel Leiris mit seinem Vortrag über „Das Heilige im Alltagsleben“.Leiris ist dann auch mit seinen
Notizen zum Thema in dem Band vertreten, Botho Strauß mit einem imposanten Text über den Idioten als
Leitfigur des 21. Jahrhunderts und E. M. Cioran mit der Aphorismensammlung „Meteora“. Constantin von
Barloewen und Raimon Pannikar gehören für Matthes wohl zu den Autoren, die Fachwissenschaft und
Erfahrungsbezug kongenial verbinden. Deshalb werden auch sie in den Band aufgenommen. Weitere Texte
stammen von Wilhelm Ritter, Adalbert Stifter, Henry David Thoreau, Mechthild von Magdeburg und vielen
anderen mehr. Sie sind Kapiteln wie „Dinge sind Sachwunder. Alltäglich wird heilig“, „Ewige Oszillation
oder Die Tonleitern der Liebe“ und „Das ewige Sieben. Zollstatik Tod“ zugeordnet.
Der Band kann in der Fülle seiner polyvalenten und sich sich immer wieder auch widersprechenden
Beiträge selbst bei mehrmaligem Lesen kaum ausgeschöpft werden. Gerade deshalb ist er ein Muss und
gehört in die Handbibliothek jedes Gottsuchers.
ham, 18. 5. 2015
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