Begegnungen mit Abwesenden
Mit einem Nachwort von Marcel Beyer
Fundus-Bücherei 205, herausgegeben von Harald Falckenberg und NicolaTorke
Philo Fine Arts, Hamburg 2013, ISBN 987-3-86572-673-5, 256 Seiten, zahlreiche schwarz-weiße Abbildungen, gebunden mit Lesebändchen, Format 16,5 × 10,4 cm, € 20.-
Der an der FU Berlin lehrende deutsche Kunst -, Foto- und Wisssenschaftshistoriker Peter Geimer unterstreicht bei der Skizzierung seines Forschungsprojekts „Bildevidenz“, dass Vergangenheit unbeobachtbar bleibt. Man habe von ihr gelesen oder gehört, erinnere sich an sie, sähe Bilder und Modelle, die Historisches zeigen, es aber in der gewesenen Integrität nicht mehr wieder herstellen können. Deshalb beruhe „ jede historische Rekonstruktion auf einer Verschränkung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Vergegenwärtigung und Entzug, Wissen und Imagination “ (Peter Geimer, http://bildevidenz.de/team/peter-geimer/). Auf die Frage, wie unter diesen Bedingungen geschichtliche Evidenz des Historischen entstehen kann, verweist er zunächst auf die beiden gegenläufigen, aber miteinander verschränkten Verfahren visueller Rekonstruktionen: auf die Versuche, sich Vergangenheit durch die Deutung ihrer sichtbaren Spuren, Reste und Hinterlassenschaften anzueignen sowie auf die Versuche, das Vergangene durch retrospektive Verfahren der Reanimation, der Narrativierung und der Fiktionalisieren nachzustellen. Ausgangspunkt des Projekts „Bildevidenz“ sei aber die These, „dass keine dieser beiden Formen visueller Evidenzerzeugung für sich genommen ausreichend ist, um sich ein Bild des Vergangenen zu machen, und es deshalb besonderer Vermittlungsformen von Spur und Animation, Zeugenschaft und Fiktion, Faktizität und Illusion bedarf“ (Peter Geimer a.a.O).
Der unter dem Titel „ Derrida ist nicht zu Hause“ erschienene Sammelband führt diese angestrebten besonderen Vermittlungsformen unter anderem in der Beschreibung eines Besuchs in der Kramgasse 49 in Bern vor, in der Albert Einstein von 1903-1909 gelebt hat. Nach Geimer ist auf einem der Türschilder in der Kramgasse 49 in Bern der Name Einstein zu lesen. „Tatsächlich steht dort nicht >>Einstein-Haus<< oder >>Erinnerungsstätte Albert Einstein<<, sondern knapp und lakonisch: Einstein - als sei der 1955 im amerikanischen Princeton verstorbene Physiker noch immer unter den Bewohnern des Hauses, sei vielleicht nur für wenige Tage verreist oder unterwegs in der Stadt, um Besorgungen zu machen. Auch 50 Jahre nach dem Tod des Gelehrten kann man in Bern also noch bei ihm klingeln. Wenn man durch die offene Türe in das Innere des Hausflurs tritt und die steilen Stufen empor steigt, trifft man im Halbdunkel des Treppenabsatzes auf eine Informationstafel. Man knipst einen Lichtschalter an, und für die Dauer der Zeitschaltung ist auf der Tafel… folgende Inschrift zu lesen: >> Der Albert Einstein-Gesellschaft gelang es 1977, die ehemalige Wohnung Einsteins im 2. Stock an der Kramgasse 49 zu mieten, original einzurichten und der Öffentlichkeit als Stätte der Erinnerung an die wissenschaftliche Leistung des Gelehrten zugänglich zu machen“ (Peter Geimer). Wenn man damit rechnet, in der ehemaligen Wohnung Einsteins auf originale Erinnerungsstücke zu treffen, die mit seiner Formel E = mc2 zu tun haben oder sie vielleicht sogar verständlich machen könnten, wird man enttäuscht. Man trifft zwar auf eine Tafel mit dem Einstein – Zitat: „Die Spezielle Relativitätstheorie ist an der Kramgasse 49 in Bern entstanden und die Anfänge der Allgemeinen Relativitätstheorie ebenfalls in Bern. Albert Einstein 1930“ , auf Verweise auf andere Orte, in denen Einstein gelebt und gewirkt hat, auf Duplikate von Bildern und auf den Schreibtisch, an dem Einstein in der Kramgasse gesessen haben mag. Aber spätestens an der Fotografie, die dokumentiert, dass die ehemalige Eschmannstrasse 1979 auf Betreiben von Dr. Max Flückiger, dem damaligen Direktor des Einstein-Hauses, in Einsteinstraße umbenannt worden ist, merkt man, dass es in der Kramgasse 49 um eine Stätte der Erinnerung zweiter Ordnung geht. „Hier sind die Museumsdinge nicht Träger von Authentizität, sondern Dokumente der Nachträglichkeit… Schon nach wenigen Minuten in den verlassenen Räumen der Kramgasse 49 beginnt man zu verstehen, worin die besondere Faszination dieses Museums besteht: Albert Einstein, laut Time Magazine vom 31. Dezember 1999 die >> Person des Jahrhunderts<<, hat einmal hier gelebt, aber seine Gegenwart hat keine Spuren hinterlassen. Das Genie ist fort, und genau diese Leere umspielt die Stätte der Erinnerung mit… Bildern,… Schautafeln und Zitaten von Zitaten. Man verlässt den Ort der Nachträglichkeit und tritt auf die Kramgasse hinaus. Dort zeigt sich ein letztes Mal, wie weit der magische Name reichen kann. Im Restaurant ,Pastamania’ serviert man jeden Tag ein Einstein-Menü: >> Gekochter Ziegan – Schinken ( Herkunft Schweiz) an Senfsauce, Tomaten – Farfalle, Salat<<“ ( Peter Geimer). Im titelgebenden Essay „Derrida ist nicht zu Hause“ demonstriert Geimer, wie drei Fotografien, auf denen Derrida noch nicht oder nicht mehr zu sehen ist, zu Bedeutungsträgern für den akademischen Megastar und wichtigsten Vertreters der philosophischen Methode der Dekonstruktion werden konnten. Das erste Foto zeigt die 1991 von Geoffrey Bennington in seiner Monographie über Derrida publizierte Aufnahme einer Fassade in der rue d’Aurelle-de Paladines Nr. 13 von El-Biar, die zweite eine Frau auf einem Balkon mit einem kleinen Jungen und die dritte ein Stillleben mit einer weißen Pfeife in einem Glasaschenbecher und einigen schwarzen Pfeifen in einer metallenen Scheibe. Der Kontext der Aufnahmen erschließt sich erst durch die Bildlegenden. Unter der ersten Aufnahme steht: „1984: Rückkehr in die rue d’Aurelle-de-Paladines Nr.13, in El-Biar: Der Garten, oder Pardes, das Zimmer von J. D. liegt rechts, hinter einem Baum verborgen“. Es geht also um das Zimmer von J.D. J.D. bedeutet Jacques Derrida. Der Titel unter der zweiten Fotografie nennt ebenfalls Ort und Zeit der Aufnahme: „Vor der Geburt von J. D.; seine Mutter und sein älterer Bruder auf dem Balkon der rue St.-Augustin, in Alger“. Die dritte Aufnahme in Benningtons Buch zeigt Derrida zur Zeit der Vorbereitung seiner Ausstellung ,Mémoires d’aveugle’. „Die rechte Hand hält die Kopie einer Skizze des französischen Zeichners Antoine Coypel, die linke Hand umschließt eine weiße Pfeife. Auf einem Stillleben aus den Wohnräumen Derrida ist diese weiße Pfeife wieder zu sehen… Sie liegt vereinzelt in einem Aschenbecher aus Glas… Das Bild entstammt einer Serie von Aufnahmen, die der Fotograf Carlos Freire für die Sondernummer ,Jaques Derrida. La déconstruction de la philosophie’ der Zeitschrift ,Magazin littéraire’ aufgenommen hat. Derrida ist nicht zu sehen… Sein Merkmal ist, dass auch dort nach ihm gesucht werden kann, wo er nicht oder nicht mehr ist - wie auf den drei Fotografien dieses Textes hier, die Jacques Derrida dreimal nicht zeigen“ (Peter Geimer). Weitere Texte in dem Band beschäftigen sich mit der Frage, warum Martin Heidegger nur mit großen Vorbehalten nach Griechenland gereist ist, was Roland Barthes´ Theorie der Fotographie mit Haikus verbindet und ob sich einige Bilder aus dem Spätwerk von William Turners tatsächlich, wie der Augenarzt Richard Liebreich um 1870 nahegelegt hatte, einer Linsentrübung verdanken oder nicht. Alle Texte eröffnen sonst selten wahrgenommene Einsichten und sind mit Gewinn zu lesen. Für Marcel Beyer schreibt Peter Geimer „keine fiktionale Texte - gleichwohl spielen sie alle auf der Bühne der Imagination. Genauer: erst an dem Punkt, wo die Betrachtung von Phänomenen Imaginationsarbeit erfordert, wird es für ihn interessant… Schreibend auf der gedachten Schwelle zwischen realem und imaginären Raum zu balancieren: darin liegt seine Kunst“ (Marcel Beyer). ham, 1.11.2104 Download