Kunst verstehen: Form, Farbe, Komposition
E.A. Seemann Verlag, Leipzig, 2011, ISBN 978-3-86502-280-6, 400 S., zahlreiche Farbabbildungen, Klappenbroschur, Format 27 x 21 cm, € 49,90
Der 1944 in Zürich geborene Philosoph, Künstler und Kunstvermittler Guschti Meyer ist mit Goethe, Klee, Kandinsky, Itten und der Moderne von der Vorstellung überzeugt, dass sich Bilder jeden Alters im Kern ohne Zusatzinformationen allein auf Grund ihrer sinnlichen Erscheinung lesen, erleben, verstehen, übersetzen und in Worte fassen lassen, wenn man ihre bildimmenente Sprache, und das heißt für ihn ihre Komposition, ihre Farben und Formen dechiffrieren kann und wenn man seinen eigenen Blick schult. Allerdings behält auch für ihn jedes Bild einen entscheidenden, unaussprechbaren Rest, der sich „nur dem Gefühl erschließt: eine Stimmung, ein Klang, etwas, das von jedem Menschen unterschiedlich erlebt wird…, ein Duft, eine Wärme-, eine Geschmacksempfindung, ein ganz persönliches und vielleicht immer wieder neues und anderes Erlebnis“ (Guschti Meyer).
Eine Art Stufenleiter des Sehens führt auf den Weg zum Verstehen. Auf einer ersten Ebene geht es um den Inhalt. „Sie kann schon durch oberflächliches Hinsehen erfasst werden: Objekte, Figuren, Hauptfarben und vieles mehr. Man könnte diese erste Ebene mit dem Aufnehmen des bloßen Handlungsablaufs beim Lesen irgendeiner Geschichte vergleichen“ (Guschti Meyer). Auf einer zweiten Ebene geht es um das Lesen der Handschrift des Künstlers, seiner Fantasie und seiner Innovationen. Diese Ebene entsteht, wenn der Künstler sein Werk mit einer besonderen Farbgebung ausstattet, die Proportionen frei handhabt und die Bildgegenstände außergewöhnlich anordnet und dabei bei dem Betrachter Zustimmung oder Ablehnung, Irritation oder Freude hervorruft. Auf einer dritten Ebene geht es um inspirierte Werke, die eine übergeordnete Gültigkeit beanspruchen können. In diesen Werken ist das „Neue und Einmalige … so schlüssig und prägnant formuliert, dass ein Gesamtorganismus entstanden ist, der nicht mehr verändert werden kann… Die Bildidee ist mit Form, Farbe und Komposition zu einer Einheit geworden und vermittelt so ihre Aussage… Die Bildaussage hat den reinen Unterhaltungswert hinter sich gelassen und kann deshalb auch nicht mehr so leicht verstanden werden. Es braucht dazu jetzt aktives Betrachten, Mitdenken, Mitfühlen und geistiges Mitgestalten. Hier spielen Lesen und Verstehen der Bildsprache eine besonders wichtige Rolle. Manchmal schwingen bei der Betrachtung … mehrere Sinne mit: Es ist, als wenn Augen, Nase, Ohr und Herz gleichzeitig wahrnehmen. So wichtig die Ebene des Bewusstseins ist, wo wenig genügt sie allein. Sie stößt dort an Grenzen, wo Schönheit, wo gefühlsmäßige und geistige Qualitäten vorliegen. Diese sind letztlich nur mit einem anderen Bewusstsein zu erfahren. Ich möchte es Herzensbewusstsein nennen“ (Guschti Meyer). Kunstwerke mit spirituellen Dimensionen erschließen sich letztlich nur dem meditativen Sehen. „Wenn man bei manchen Bildern geistige Dimensionen erahnen kann, wenn Unsichtbares, Übersichtliches durchscheint, versagt jedes formulierende Begreifen… Einfühlung und immer neue Begegnungen sind dann vonnöten. In diesen Tiefenebenen liegt auch der Grund, weshalb ein Kunstwerk immer wieder neu zu begeistern vermag. Seine Aussage kann nie erschöpfend und endgültig ausgelotet werden“ (Guschti Meyer).
Meyer ist mit Paul Klee der Überzeugung, dass ein „Bild … erst ganz ernst zu nehmen ist, wenn es sich mit den passenden bildnerischen Mitteln restlos zur Gestaltung verbindet“ (Paul Klee). Mit Klee teilt er auch die bildnerischen Mittel in den drei großen Kategorien Komposition, Farbe und Form ein. In der Kategorie Komposition wird unter anderem die Funktion und Bedeutung der Bildfläche, der Waagrechten, der Senkrechten, der Diagonalen, Gleichgewicht, Proportion und Zahl besprochen. In der Kategorie Farbe geht es unter anderem um Hell-Dunkelwerte, Farbordnungen, Farbbeziehungen, kalte und warme Farben und Ausdrucksfarben. In der Kategorie Form werden Punkt, Linie, Fläche, der Raum, Struktur, Ornament, Symbol und die Figur-Grund-Beziehung besprochen. In seinem letzten Kapitel handelt Meyer auf 34 kurzen Seiten den Wandel der Bildsprache von der christlichen Kunst bis zur Gegenwart ab. In dem Kapitel wird zumindest indirekt angedeutet, dass der Betrachter auch über die Zeit und die Umstände, in denen die Bilder geschaffen worden sind, informiert sein muss, wenn er sie in der Tiefe verstehen will. So erinnert Meyer bei der Besprechung von Alfred Manessiers ‚Offrande à la terre I‘ von 1961 an das zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehende neue Weltbild der Physik und an Paul Klees in seinem Tagebuch festgehaltene Absicht, in seinen Bildern das Unsichtbare sichtbar zu machen. „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar. Denn ich wohne gerade so gut bei den Toten, wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich. Und noch lange nicht nah genug“ (Paul Klee). Meyer nimmt den Faden auf und notiert, dass die Zahl der Künstler, die sich in Grenzüberschreitung erprobten, immer größer wird. Und erst dann kommt er zum Bild von Manessier: Das Bild von Manessier zeige eine solche, für seine Zeit relativ überraschende Sicht der Wirklichkeit. Man erkenne sogleich, „dass es sich bei diesem Bild nicht um eine Komposition handelt, die mit reinen Bildelementen arbeitet… Die Farben und Formen wollen hier offensichtlich nicht nur sich selbst und ihre gegenseitige Beziehungen darstellen, sondern sie dienen einem zusätzlichen Inhalt. Dieser ist noch unbekannt. Um dem Bild trotzdem näherzukommen, muss man die Bildsprache lesen… Aus nächtlich dunkler Tiefe schimmern kühle Farben auf organisch bewegten, senkrechten Bändern. Da und dort leuchten Flecken aus Cyanblau satt hervor. Das helle Blau scheint sich in der Tiefe zu bilden, es wächst und entwickelt sich gleichzeitig auf allen senkrechten Flächenbändern in den verschiedensten Tönen. Ganz zart entsteht ein kühler Klang… Rote und braunrote Flecken bilden den größten Kontrast zu den blauen… Die senkrechten, farbigen Bänder sind organisch bewegt. Sie erinnern an aufstrebende Schlingpflanzen in geheimnisvoller Wassertiefe. Zwischen ihren an- und abschwellenden Formen herrscht tiefe Dunkelheit. Sie wirkt aber nicht undurchdringlich und verschlossen, sondern scheint in vielen Nuancen von Schwarzrot und Blauschwarz zu atmen und zu vibrieren. Durch diese aus der Tiefe leuchtende Farbkraft öffnet sich dem Betrachter eine neue, unvergleichliche Dimension: Er blickt in eine Innenwelt… Immer deutlicher werden Ordnung un Struktur. Manessier nannte sein Bild … ‚Gabe oder Opfergabe an das Ende‘. Der Maler lässt uns in tiefere Bereiche schauen: Die Oberfläche ist aufgerissen, Unsichtbares wird sichtbar gemacht. Die Erde zeigt sich in schillernden Farben. Aus tiefer Dunkelheit gestaltet das Licht neue Formen und Strukturen, die Grundlagen einer umfassenden Ordnung und Schönheit. Eine Grenze überschreitend, führt uns die Darstellung Manessiers über die äußere, sinnlich erfahrbare Welt hinaus in unsichtbare, feinstoffliche und auch geistige Bezirke“ (Guschti Meyer).
Mit dieser Deutung hat Meyer am Schluss seines Kompendiums die für ihn höchste Stufe des Verstehens erreicht. Viele werden ihm begeistert folgen und seine Sehschule an andere weiterzugeben versuchen. Meine Erfahrung ist, dass das nur begrenzt gelingen kann. Wie manchen der Zugang zu höheren Mathematik verschlossen bleibt und anderen der Zugang zu Religion, so bleibt Dritten die Sprache der Bilder auf Dauer verschlossen. Sie sehen zwar und sie hören oder lesen die Erklärungen, aber sie verstehen sie nicht. Sie wohnen gleichsam einem Schauspiel bei, das die Sprache der Bilder auf der großen Bühne zu erklären versucht. Der Vorhang geht auf. Die Handlung nimmt ihren Lauf und kommt zu ihren Höhepunkt. Eigentlich sollte man jetzt verstehen. Aber bei den ästhetisch Unmusikalischen macht sich das Gefühl breit und setzt sich durch, dass dieses Schauspiel für sie unzugänglich bleibt.
ham, 30.10.2013
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