Reinhold Weber (Hg.)
Theiss Verlag, Darmstadt, 2013, ISBN 978-3-8062-2714-7, 176 S., 39 s/w-Abbildungen,
Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x 15 cm, € 24,95
Reinhold Weber betont im Vorwort des von ihm herausgegebenen Bandes über die andere
Seite der vermeintlich braven Schwaben, dass die in dem Band versammelte Geschichte der
gesellschaftlichen und politischen Aufbrüche der 70er- und 80er Jahre in Baden-Württemberg
allenfalls Schlaglichter auf die neuen Formen der Bürgerlichkeit, der Kritik, der Partizipation
und des Protests jenseits der etablierten Parteien im deutschen Südwesten werfen könne. In
den Jahren nach 1968 sei die breite kulturelle und politische Protestbewegung zerfallen.
„Während sich die einen den zahlreichen kommunistischen, trotzkistischen oder maoistischen
>>K-Gruppen<< anschlossen, fanden sich die anderen in antiautoritären Zusammenschlüssen,
Aussteiger- und Landkommunen, Hausbesetzer- oder Sponti-Szenen wieder. Der weitaus
größte Teil dieses linkskritischen Milieus hat Protest- und Lebensformen jenseits der Gewalt
gefunden. Nur ein verschwindend kleiner Teil wählte hingegen die Isolation und den
>>bewaffneten Kampf<< im Teufelskreis der RAF-Gewalt. Die 70er-Jahre waren aber auch
die Jahre nach dem Boom. Nach einem einzigartigen Wirtschaftswachstum schwand
spätestens seit dem (Öl-)Krisenjahr 1973 der Glaube an den immerwährenden Fortschritt.
Postmaterialistische Werte wie Naturerhaltung, globale Verantwortung, Partizipation und
Selbstbestimmung sowie Geschlechtergerechtigkeit gewannen an Bedeutung. Die Neuen
Sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre waren mit ihren Vorstellungen einer Demokratie
>>von unten<< eine Herausforderung an die von ihnen als starr empfundenen
gesellschaftlichen und politischen Normen der Bundesrepublik. In zahlreichen Bürger- und
Basisinitiativen engagierten sich Hunderttausende gegen Atomkraft, gegen atomare Waffen,
gegen Umweltverschmutzung, für die Rechte der Frau, für die Anliegen der >>Dritten
Welt<<, für Bürger- und Minderheitenrechte sowie für den weltweiten Frieden. Das sind
zentrale Merkmale der westdeutschen und der baden-württembergischen Gesellschaft der
1970er- und 1980er-Jahre“ (Reinhold Weber). Dass Weber deutlich macht, dass der Band
allenfalls einen ersten Überblick über die jüngere Protest- und Konfliktgeschichte Baden-
Württembergs geben kann, gehört zu seinen Vorzügen. Nicht verhandelt werden unter
anderem die Schwulen- und Lesbenbewegung, die kirchliche Seite von >>Ökopax<<, die
Gewerkschaften, die Jugendzentrumsbewegung, die Hausbesetzerszene und der
Volkszählungsboykott. Zu den Vorzügen des Bandes gehört es weiter, dass er die politik- und
zeitgeschichtliche Aufarbeitung des Terrors der RAF, des zivilen Widerstands in Wyhl am
Kaiserstuhl, der Entstehung der baden-württembergischen Grünen, der neuen
Frauenbewegung, des „Remstal-Rebells“ Helmut Palmer, der Menschenkette von Stuttgart
nach Neu-Ulm vom 22. Oktober 1983 und des mit dem Nato-Doppelbeschluss verbundenen
zivilen Ungehorsams gegen die Aufstellung von Cruise Missiles in Mutlangen um die
Perspektiven von ausgewählten Hauptakteuren der fraglichen Jahre und ihrer Angehörigen
ergänzt. Damit macht er deutlich, dass sich der Blick auf die Zeit nach 1968 aus der
Perspektive der mittelbar und unmittelbar Betroffenen völlig anders anfühlt als der
wissenschaftlich abgesicherte Zugriff. Deshalb ergänzen die Interviews unter anderem mit der
1952 geborenen Grünen-Politikerin Marie-Luise Beck, mit dem 1943 geborenen Erfinder der
Menschenkette Ulli Thiel und mit dem 1966 geborenen heutigen Oberbürgermeister der Stadt
Fellbach Christoph Palm die ausgewogenen Essays der zwischen 1960 und 1981 geborenen
Wissenschaftler kongenial. Wer ab 1968 in Tübingen studiert und neben der Politisierung des
Tübinger Theologischen Stifts und der Alma Mater auch den Remstal-Rebell Helmut Palmer
auf dem Wochenmarkt vor dem Tübinger Rathaus in der für ihn Typischen
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