Eine Einführung
Philipp Reclam jun., Stuttgart, 2013, ISBN 978-3-15-010875-8, 380 S., 57 s/w-Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 15,5 x 10,5 cm, € 18,95 (D)
Die glänzend geschriebene Einführung in die Architektur der Moderne zeichnet sich durch stupende Einblicke in die wichtigsten Strömungen und deren Technik – , wirtschaftszeitliche Hintergründe sowie ihre politischen und sozialen Kontexte aus. Diese Kontexte lassen verständlich werden, warum die Bauaufgaben, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts stellten, veränderte Bautechniken und Materialien erfordert und zu völlig neuen formalen Lösungen führten. Die traditionell führenden Aufgaben Kirchenbau und Schloss wurden durch Aufgaben „wie Bahnhöfe, Börsen, Markthallen, Passagen, Galerien und Warenhäuser, Bibliotheken, Schulen und Universitäten, Justizpaläste, Bauten der öffentlichen Verwaltung, Theater, öffentliche Museen, Ausstellungshallen und natürlich auch Zinshäuser und Fabriken“ abgelöst und dominiert. „Die neuen Materialien waren Gusseisen und Glas, später Stahl und Beton. Neue Berechnungsmethoden halfen, statische Probleme zu lösen. Das Erbauen von Gebäuden veränderte sich zum Konstruieren. Die Baustatik bildete dabei einen wichtig werdenden Pfeiler… Die Ingenieurbauweise mit ihren Materialien Glas und Eisen begann … mit der klassischen Baukunst zu rivalisieren“ (Hildegard Kretschmer). In Esslingen wurde 1873/73 von Otto Tafels mit der Villa Merkel einer der frühesten vollständig der Form nach noch historischen Betonbauten Deutschlands errichtet. In London entstand 1851 für die erste Weltausstellung Joseph Paxtons erstmals ausschließlich aus vorgefertigten und genormten Gusseisenteilen und holzgerahmten Glasplatten gefertigter Kristallpalast als das damals größte Bauwerk der Welt. In Paris konstruierte Gustave Eiffel für die Weltausstellung von 1889 aus 12 000 Eisenteilen einen 300 Meter hohen Turm. In den USA entstanden in der Schule von Chicago die ersten Hochhäuser und 1889/1906 Louis H. Sullivans Warenhaus Carson Pieri Scott & Co. in Chicago. Unter den Bauten der frühen Moderne ragen Frank Lloyd Wrights auf einem kreuzförmigem Grundriss errichtetes Haus Ward W. Willis von 1902/03 ebenso heraus wie Peter Behrens’ AEG-Turbinenhalle von 1909 in Berlin-Moabit und Walter Gropius‘ Faguswerk von 1911 in Alfeld a.L. Die vom Deutschen Werkbund als Musterhaussiedlung angedachte und unter der Gesamtplanung und künstlerischen Leitung von Mies van der Rohe auf dem städtischen Weißenhofgelände realisierte Weißenhofsiedlung vereinigte 60 Wohnungen in unterschiedlichen Haustypen. „Mies van der Rohe gestaltete die Gesamtanlage nicht geometrisch streng, sondern malerisch verteilt, also ohne Siedlungsraster. Außerdem legte er Mustergrundrisse mit zentralem großem Wohnraum vor, um den kleine Individualräume angeordnet waren. Der Flug ging größtenteils im modernen Wohnraum auf. Feindbild war dabei die alte >>gute Stube<<, die kaum benutzt, dunkel und mit repräsentativen Möbeln vollgestellt war. Für die kleineren Räume waren eine Reduzierung des frei im Raum stehenden Mobiliars und Einbaumöbel eine notwendige Folge. Das damals entstehende moderne Wohnzimmer sollte leicht, offen und luftig wirken. Das Neue Bauen forderte viel Licht, weiße Fassaden, Glas, Metall und andere neue Baumaterialien, neue Baumethoden und Verzicht auf jedweden Dekor. Der freie Grundriss war besonders wichtig… Ein weiteres gefordertes Grundprinzip waren Einfachheit und niedrige Baukosten, woraus sich konsequenterweise Rationalisierung und Typisierung ergaben… Die Schau des Neuen Bauens sollte als spektakuläres Novum präsentiert werden, so wurden allein meist junge, der breiten Bevölkerung unbekannte avantgardistische Architekten akzeptiert… Die Weißenhofsiedlung stellt … einen wichtigen Schritt in Richtung industrialisiertes Bauen dar“ (Hildegard Kretschmer). Den Wohn- und Städtebauvisionen des an der Weißenhofsiedlung mitbeteiligten Architekten, Städteplaners, Malers und Theoretikers Le Corbusier ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Anders als seine seit 1950 geplante und 1955 eingeweihte Wallfahrtskirche Notre Dame du Haut in Ronchamp stoßen Le Corbusiers städtebaulichen Vorstellungen heute vornehmlich auf Kritik: Dass Paris seinem Vorschlag nicht gefolgt ist, die historische Innenstadt abzureißen und nach seinen Vorstellungen von Standardgrößen und Mobilitätsanforderungen wieder aufzubauen, kann man als glückliche Fügung bezeichnen. Die von ihm stark beeinflusste Charta von Athen hat den Wiederaufbau deutscher Innenstädte nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt und sie wie z.B. Stuttgart autogerecht und gesichtslos werden lassen. Für Kretschmer haben die grundlegenden Dogmen der Architektur „ihre Wurzeln in sozialen Utopien und Reformideen. Es ging um eine möglichst gute Versorgung der neuen Massengesellschaft. Man suchte nach ökonomischen Standardlösungen und Typen, die durch industrielle Serienproduktion und serielle Montage massenhaft errichtet werden konnten. Folglich wurde der Siedlungsbau in der Zwischenkriegszeit zur Hauptbauaufgabe. Ein neuer Bautyp, das Hochhaus, erhielt immer mehr Bedeutung. Auch formal musste den industriellen Grundbedingungen Rechnung getragen werden. Die Skelettbauweise, der freie Grundriss und die freie Fassade sollten Flexibilität und Funktionalität ermöglichen und der Zeilenbau unter dem Anspruch von Demokratie egalitäre Wohnverhältnisse bei gleichmäßiger Belichtung und Besonnung. Zu den weiteren Dogmen gehörten das Flachdach und liegende Fenster ohne Teilung, die als Ausdruck einer nicht metaphysischen, sondern materialistisch-rationalen Weltanschauung verstanden wurden. Das Hochhaus –ohne Hierarchie der Geschosse - wurde als >>Wohnhaus für viele<< gefordert“ (Hildegard Kretschmer). Die in den 1950er Jahren immer heftiger werdende Kritik am Funktionalismus und an den immer mehr bloßen „Allzweckcontainern“(Heinrich Klotz) werden die modernen Bauten zur High-Tech-Architektur der 1970er Jahre und den Ikonen der Postmoderne wie James Stirlings und Michael Wilfords Neuer Staatsgalerie in Stuttgart (1977-84) über. Es folgen kurze Abrisse zur dekonstruktivistischen, minimalistischen, rationalen und digitalen Architektur der letzten Jahre. Am Schluss steht die Sorge um die europäische Stadt: „Die allgemeine Beschleunigung im Alltag hat auch die architektonische Praxis erfasst. Es gibt eine Vielzahl von Trends und nie zuvor dagewesene technische Möglichkeiten, die auch eine neue Ästhetik schaffen. Erst in den nächsten Jahrzehnten wird rückblickend zu erkennen sein, wie diese Phase der Architektur zu benennen und vor allem wissenschaftlich kritisch zu beurteilen ist und ob sie in ihrer Formensprache nachhaltig war. Sorge muss man allerdings haben, wenn solche eigentlich unlebendigen Gebilde in ihrem Aufmerksamkeits- und Dominanzbedürfnis und ihrer Maßstablosigkeit in die Zentren alter Städte geraden. Das Besondere der europäischen Stadt, deren Individualität und lebendige Gewachsenheit es sonst nirgend auf der Welt gibt, ist unwiederbringlich zerstörbar und somit hoch gefährdet“ (Hildegard Kretschmar) ham, 10.10..2013 Download
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