Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung

Verlag C.H.Beck, München 2022, ISBN 978-3-406-79042-3, 448 Seiten, 20 farbige Abbildungen, Hardcover gebunden, mit Schutzumschlag, Format 22,2 x 14,5 cm, € 34,00

Die mythischen Hintergründe des Sündenfalls in der Schöpfungs- und Urgeschichte der hebräischen Bibel haben Gelehrte seit Generationen interessiert. Mit der von dem vielfach ausgezeichneten deutschen Judaisten Peter Schäfer (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Schäfer_(Judaist)) vorgelegten Monografie ›Die Schlange war klug‹ liegt jetzt eine glänzend geschriebene Übersicht über die wichtigsten altorientalischen Epen, Platons Kosmotheologie, Aristoteles’ Kosmophilosophie und seine Vorstellung vom Unbewegten Beweger, Philons Traktat über die Weltschöpfung, die bei den Atomisten Demokrat, Epikur und Lukrez gottlos gedachte Natur und das auf das Verhältnis von Israel und Gott zugeschnittene Geschichtsdenken des rabbinischen Judentums vor und damit relevantes Vergleichsmaterial, das es erlaubt, die Eigenart und Sonderstellung des biblischen Weltentwurfs präzise herauszuarbeiten und zu fassen.

Wenn man der rabbinischen Auslegung der Schöpfungsgeschichte und Schäfer folgt, ist der Mensch durch die Klugheit der Schlange und die Möglichkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden, überhaupt erst Mensch geworden. „Die Rabbinen denken die biblischen Schöpfungserzählungen weiter und verwandeln den biblischen Mythos zielstrebig in den Beginn der Geschichte, den Schöpfergott in den Gott der Geschichte und das Volk Israel in Teilhaber Gottes im Verlauf der Geschichte. Die später am Sinai offenbarte Thora diente schon als Gottes Bauplan für die Erschaffung der Welt, und Gott war selbstverständlich der alleinige Schöpfer; jeder Versuch, ihm ›Helfer‹ im platonischen oder philonischen Sinne beizugesellen, wird verworfen. Die Schöpfung war nicht Selbstzweck, sondern von Anfang an auf die nachfolgende Geschichte Gottes mit Israel und Israels mit Gott, die Gabe der Thora, die Erlösung am Ende der Geschichte und das Heil der zukünftigen Welt ausgerichtet, ja diese zukünftige Welt ist ebenfalls schon im Schöpfungsplan angelegt. Deswegen kümmert sich der jüdische Gott, anders als die Götter der Heidenvölker, auch von Anfang an um das Wohlergehen der Welt und seines Volkes, er ist ein Gott der Vorsehung. Das antimythische und radikal heilsgeschichtliche Weltbild der Rabbinen ist auf den Menschen als Partner Gottes ausgerichtet und speist sich primär aus dem Text der Hebräischen Bibel in ihrer Gesamtheit. Damit wird die rabbinische Schöpfungstheologie zum markantesten Antipoden nicht nur der altorientalischen Mythen, sondern auch der klassischen griechisch-römischen Philosophie bis hin zu den Atomisten“ (Peter Schäfer S. 21).

Im nachbiblischen Judentum fasst die zweite Baruchapokalypse Adams und Evas Tat so zusammen: „Wenn Adam auch zuerst gesündigt und über alle den vorzeitigen Tod gebracht, so zog doch auch von den Kindern ein jedes selber auch die künftige Pein sich zu; es wählte jedes einzelne davon die künftige Herrlichkeit sich aus […]. Sonach trägt Adam einzig und allein für sich die Schuld; wir alle aber wurden jeder für sich selbst zum Adam“ (2. Baruch 54, 15 – 19). Demnach ist Adam und demnach sind alle Nachkommen Adams selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Von Erbsünde kann keine Rede sein.

Der Text der Hebräischen Bibel versteht die Übertretung des göttlichen Gebots durch Adam und Eva im Paradies „nicht als ›Sünde‹ und schon gar nicht als ›Erbsünde‹, sondern als notwendige und von Gott nicht nur vorausgesehene, sondern geduldete, wenn nicht sogar beabsichtigte Handlung des ersten Menschenpaares: Gott wusste und wollte, dass der Mensch erst mit der Ausübung des freien Willens zum Menschen im eigentlichen Sinne wurde. Die Literatur des nachbiblischen Judentums unterstreicht die Bedeutung der freien Wahl zwischen gut und böse als Kern des Menschseins, und das rabbinische Judentum spitzt dieses Verständnis des ›Sündenfalls‹ in fast unerträglicher Weise zu: Erst die freie Wahl mit der immer präsenten Möglichkeit der falschen Entscheidung und damit dem Tod als Folge der falschen Entscheidung überführt den als ›Idealzustand‹ missverstandenen Aufenthalt im Paradies in die wirkliche – und damit von Gott von Anfang an geplante – Welt des Menschen und entlässt diesen damit in die Geschichte […]. Für die Rabbinen ist die angebliche ›Schuld‹ Adams und Evas deswegen kein Fluch, sondern ein Segen“ (Peter Schäfer S. 355 f.).

Auch Paulus hat diese Vorstellung festgehalten: „Wie durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt kam und durch die Sünde der Tod, auf diese Weise gelangte auch der Tod zu den Menschen, weil alle sündigen“ (Römer 5,12). „Hier ist wie schon in den jüdischen Apokalypsen klar festgehalten, dass Adam zwar mit seiner Sünde den Tod in die Welt brachte, dass aber das aus ihm hervorgegangene Menschengeschlecht ihm nicht deswegen in der Sünde nachfolgte, weil es durch ihn vorgeprägt gewesen wäre und deshalb zwangsläufig gesündigt hätte, sondern weil alle Menschen selbst – in freier Entscheidung – sündigen. Damit ist jeder Gedanke an eine Erbsünde auch bei Paulus ausgeschlossen“ (Peter Schäfer S. 341).

Erst Augustinus verhilft dem Konzept der Erbsünde in seiner Auseinandersetzung mit Pelagius ⟨vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Pelagius_(Theologe)⟩ endgültig zum Durchbruch. „Pelagius vertrat eine ausgeprägte Theologie der Willensfreiheit jedes einzelnen Menschen, der aufgrund seiner eigenen Entscheidung zum Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten gelangen könne und nicht von Natur aus von einer ewigen Sünde korrumpiert sei. Stärker noch als Pelagius selbst […] gerieten dessen Reisegefährte Caelestius und Pelagius’ etwas jüngerer Anhänger Julian von Eclanum (um 386 –455) in Augustinus’ Visier. Vor allem Julian und Augustinus führten einen regelrechten öffentlichen Kampf um Willensfreiheit und Erbsünde mit allen ihnen zur Verfügung stehenden literarischen Mitteln.

Augustinus war der Erste, der den Begriff peccatum originale, ›Erbsünde‹ verwandte. Daneben gebrauchte er  die Begriffe originalis reatus, ›Erbschuld‹ oder ›Urschuld‹, und peccatum ex traduce, wörtlich ›Sünde aus dem Weinstock‹ (tradux). Damit ist im übertragenen Sinne die angeborene Sünde jeder einzelnen menschlichen Seele gemeint, die bei der Geburt des Menschen von den elterlichen Seelen vererbt wurde und die ihrerseits auf Adam und Eva zurückgeht. „Schon in seinen ›Bekenntnissen‹ (Confessiones), die zwischen 397 und 400 entstanden, noch bevor er die Theologie der Erbsünde ausformulierte, erkennt Augustinus, dass er selbst als vermeintlich unschuldiges Kind nicht frei von Sünde war: ›Ist doch niemand vor dir [Gott] frei von Sünde, nicht einmal das Kind, das erst einen Tag auf der Erde lebt.‹ Obwohl die Mutterbrust reichlich Milch spendet, neide schon der Säugling seinem ›Milchbruder‹ die Milch der Mutter. Und so gelte für ihn wie für uns alle das Wort des Psalmisten: ›In Ungerechtigkeit bin ich empfangen (conceptus sum) und in Sünden hat meine Mutter mich in ihrem Schoße genährt (in utero aluit) (Ps.50 / 51,7) – wo, ich flehe dich an, mein Gott, wo, o Herr, bin ich, dein Sklave, wo oder wann bin ich (jemals) ohne Schuld gewesen?“ (Augustin / Peter Schäfer S. 346).

Nach Augustus’ Hauptwerk ›Der Gottesstaat‹ sind Adam und Eva der ›Weinstock‹, aus dem wir alle hervorgehen. Sie sind durch ihre einzigartige Sünde dem Tod verfallen und deswegen sollte alles, was aus ihrem Stamm hervorsprosst, dieselbe Strafe erleiden. Alle auf Adam folgenden Generationen sind im wörtlichen Sinne biologisch in seinem Samen enthalten und unterliegen daher demselben Geschick. „›Noch war uns im Einzelnen zwar die Form nicht erschaffen und zugeteilt, in der wir als Einzelwesen leben sollten; aber das Stammwesen war da, aus dem wir durch Fortpflanzung hervorgehen sollten. Und weil jenes wegen der Sünde dem Verderben anheimgefallen und mit Todesbanden umstrickt und gerechterweise verdammt war, so sollte auf dem Weg der Zeugung von Mensch zu Mensch das gleiche Los den Nachkommen zuteil werden‹“ (De Civitate Dei, III,14; zitiert nach Peter Schäfer S. 347). Die gesamte Menschheit war an ihrer Wurzel krank geworden (radice corrupta) und von Anfang an verderbt (origine depravata). Die darauf folgend Strafe ist nicht nur der Tod, sondern auch die verderbte Sündhaftigkeit. Heilen kann nur der Erlöser: Für Augustinus sieht das schon Paulus: ›Wie durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt kam und durch die Sünde der Tod, auf diese Weise gelangt auch der Tod zu allen Menschen, weil / um dessentwillen / weswegen (eph’hō) alle sündigen (Römer 5.12)‹.

„Augustinus konnte kein Griechisch und benutzte die lateinische Übersetzung (Vetus Latina oder Vulgata), die in einem entscheidenden Punkt vom griechischen Original abweicht. Sie übersetzt das grammatikalisch schwierige eph’hō fälschlich bzw. missverständlich mit ›in dem‹ (in quo) und bezieht den Nebensatz damit auf den ›einen einzigen Menschen‹, nämlich Adam: ›in dem alle [Menschen] sündigten‹. Die Behauptung mancher Exegeten, dass die Erbsündenlehre des lateinischen Kirchenvaters auf eine Fehlübersetzung aus dem Griechischen zurückgeht, führt zu weit und ist zu schlicht. Augustinus verwendet auch andere biblische Belege, wenn auch keineswegs bessere, und vor allem: Er war von seiner Erbsündenlehre besessen, dass ihn solche philologischen Feinheiten kaum interessierten […]. 

Die eigentliche Ironie der Geschichte ist vielmehr eine andere: Ausgerechnet der Kirchenlehrer, der sein ganzes Leben erfolglos gegen die Gelüste des Fleisches ankämpfte und keinen anderen Ausweg sah, als diese auf eine vererbte Ursünde zurückzuführen, ausgerechnet er setze sich damit gegen seine Gegner, die Pelagianer durch. Der Pelagianismus wurde schon 418 auf dem lokalen Konzil von Karthago verurteilt, und das Konzil von Ephesus erklärte 431 Pelagius und Caelestius zu Häretikern, während das zweite (lokale) Konzil von Orange in Südfrankreich 529 große Teile von Augustus’ Lehren bestätigte. Augustinus wurde der bedeutendste Kirchenlehrer des westlichen Christentums und bald allgemein als Heiliger verehrt“ (Peter Schäfer S.349 f.). „Im Christentum hat sich die pessimistische Auffassung des Paulus und Augustinus in so gut wie allen Denominationen durchgesetzt, nicht zuletzt auch in der protestantischen Rechtfertigungslehre mit ihrer radikalen Ausrichtung auf die Erlösung von sündigen Menschen allein durch die Gnade Gottes (sola gratia) und durch den unbedingten Glauben des Menschen (sola fide). In der katholischen Kirche wurde die Erbsündenlehre […] auf dem Konzil von Trient (1545 – 1563) zum Dogma erhoben“ (Peter Schäfer S.357).

In seinem Epilog skizziert Schäfer den aufgeklärt-philosophischen Befreiungsschlag gegen die christliche Deutungshoheit der Paradieserzählung bei Kant, Schiller und Fichte bis hin zum programmatischen Rückfall in die christlichen Denkmuster bei Carl Schmitt. Auf den Punkt gebracht ist der entscheidende Impuls seines Buches der, die jüdische Sicht auf den biblischen Schöpfungsmythos – gegen die griechisch-lateinische Philosophie und vor allem gegen seine christliche Missdeutung – wieder in unser Bewusstsein zu holen. „Wenn wir vom jüdisch-christlichen Abendland reden, meinen wir eigentlich immer das christliche Abendland und das jüdische allenfalls durch die Brille des Christentums“ (Peter Schäfer S. 25).

ham, 3. Juli 2023

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