Verlag C.H.Beck, München 2023, ISBN-13: 9783406807435, 430 Seiten,Hardcover, gebunden mit Lesebändchen und Schutzumschlag, Format 22 x 15 cm, € 28,00

Sein 300. Geburtstag am 22. April 2024 hat dem Königsberger Naturwissenschaftler und Philosophen nicht nicht nur das Titelthema ›Wie geht Frieden, Immanuel Kant?‹ im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT Nr. 2 vom 4. Januar 2024 beschert, sondern auch eine Auflistung von 500 Publikationen zu seiner Person, seinem Werk und seiner Wirkungsgeschichte (vergleiche dazu https://www.buecher.de/rubrik/buecher/immanuel-kant/01360208020301/) und ungezählte weitere Artikel. Bei so viel Aufmerksamkeit könnte man denken, dass Kant jetzt wieder im Original gelesen werden wird. Aber wer sich schon bisher gescheut hat, sich Kant durch die eigene Lektüre zu erschließen, wird von der jetzt vorliegenden literarischen Fülle eher erschlagen als ermutigt.

Deshalb ist es eine Wohltat, das der seit 2003 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main Philosophie lehrende Kant-Spezialist Marcus Willaschek Kants Gesamtwerk in 30 leicht lesbaren Essays erschlossen und unter dem Titel ›Kant. Die Revolution des Denkens‹ zusammengefasst hat. Seine Darstellungen sind nichts weniger als historisch-philosophische Miniaturen, die auch den Menschen, seine Abgründe und seine Zeit zeigen. Willaschek beginnt mit Kants Schrift ›Zum ewigen Frieden‹ und weiteren Veröffentlichungen zu Politik und Geschichte. Es folgen Moral, Recht, Religion, Natur, Erkenntnis und Metaphysik. In der allgemeinen Wahrnehmung geht zumeist unter, dass sich von Kants gut 70 Büchern und Aufsätzen die Hälfte ganz oder teilweise Themen der Naturwissenschaften zuordnen lassen (vergleiche dazu und zum Folgenden Marcus Willaschek S. 248).

Seine erste Dissertation von 1755 entwickelt eine Theorie des Feuers (De igne). Mehrere Aufsätze aus dem Folgejahr widmen sich Erdbeben, andere den Winden oder den kleinsten physikalischen Teilen. 40 Jahre hält er Vorlesungen über physische Geografie  und seit 1772 auch über Anthropologie und behandelt dort Themen, die man heute der Kognitionswissenschaft zuordnen würde. Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ untersucht in weiten Teilen die nicht-empirischen Grundlagen der Physik und der zweite Teil der ›Kritik der Urteilskraft‹ behandelt die begrifflichen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Biologie. Verschiedene Aufsätze aus den 1770er und 1780er Jahren schlagen einen präzisen Begriff der Menschenrasse vor. Seine letzten Jahre arbeitet „Kant an einem großen, nicht mehr abgeschlossenen Werk, das den ›Übergang‹ von den ›metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‹ zur Physik enthalten sollte. Kant war mit dem Stand der Physik, Astronomie, Geologie, Geografie, Anthropologie und Psychologie seiner Zeit bestens vertraut und hat zu allen diesen Disziplinen originelle Beiträge geleistet. Man kann ihn daher mit gutem Recht als bedeutenden Philosophen und Naturwissenschaftler bezeichnen […]. Dass er außerdem ein Wegbereiter der modernen Sozial- und Politikwissenschaft war, sei […] nur am Rande erwähnt“ (Marcus Willaschek a. a. O.).

Willascheks Einlassungen zu Kants Behandlung der Metaphysik endet mit der Frage, ob er ein Atheist war (vergleiche dazu und zum FolgendenMarcus Willaschek S. 361 ff.). Das behauptet zumindest Manfred Kühn in seiner 2002 erschienen Kant-Biografie. Doch anders als Kühn annimmt, spricht alles dafür, dass Kant an einen personalen Gott geglaubt hat. Kant hat sich seit seiner Studentenzeit in allen Phasen seines Schaffens bis in die letzten Aufzeichnungen hinein mit der Frage nach Gott auseinandergesetzt. Allerdings ist sein bedeutendster und einflussreichster Beitrag zu philosophischen Theologie zunächst einmal negativ. In der ›Kritik der reinen Vernunft‹ beweist Kant, dass man Gott nicht beweisen kann. Da Gott „kein Gegenstand in Raum und Zeit ist, den wir mithilfe unserer Sinne erkennen können, übersteigt die Frage, ob Gott existiert oder nicht, alle menschliche Erkenntnis“ (Marcus Willaschek S. 367). Man kann aber auch ohne Beweise an Gott glauben. Deshalb muss Kant nach der Vorrede zur zweiten Auflage seiner ›Kritik der der reinen Vernunft‹ das Wissen „aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (Marcus Willaschek a. a. O.). 

„In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ bezeichnet Kant die Existenz Gottes als ein ›Postulat der reinen praktischen Vernunft‹, das heißt als eine nicht beweisbare, aber rational notwendige Annahme. Und in der ›Kritik der Urteilskraft‹ dient ausgerechnet Spinoza als Beispiel für einen ›rechtschaffenen Mann‹, der an seiner eigenen moralischen Aufgabe verzweifeln muss, weil er nicht an Gott glaubt. Auch für Kant war jemand, der Gott und Naur gleichsetzt, ein Atheist. Doch daraus wird zugleich klar, dass Kant selbst sich nicht als Atheisten sah. Natürlich war Kant kein unkritischer Anhänger einer traditionellen christlichen Gottesvorstellung, sondern vertrat bereits in seiner frühen ›Allgemeinen Naturgeschichte‹ von 1755 einen abstrakteren, dem Deismus nahestanden Gottesbegriff. Später lehnte Kant den Deismus zwar ab, meinte dabei aber nur eine bestimmte Variante, die Gott nicht als allgütige und allwissende Person betrachtet. Umgekehrt bedeutet das, dass für Kant Persönlichkeit, Allgüte und Allwissen zu seinem Verständnis Gottes unbedingt hinzugehören. Dass Kant die Existenz eines solchen Gottes bestritten hat, ist weder durch seine Schriften noch durch Zeugnisse seiner Freunde, Kollegen und Schüler belegt. Ganz im Gegenteil behauptet Kant immer wieder, dass es moralisch notwendig sei, an einen allgütigen, allwissenden und allmächtigen Gott zu glauben“ (Marcus Willaschek S. 368 f.).

Für Willaschek ist Kant der bedeutendste Philosoph der Neuzeit und seine ›Kritik der reinen Vernunft‹ ein Meilenstein der Geistesgeschichte. „Seit Platon und Aristoteles hat niemand über so viele und unterschiedliche Themen tiefer und innovativer nachgedacht als Kant. Er ›zermalmte‹ die traditionelle Metaphysik – und begründete eine neue. Er erklärte die Entstehung unseres Planetensystems und formulierte den Kategorischen Imperativ. Er war der Wegbereiter des Kosmopolitismus und der modernen Idee der Menschenwürde. Sein Denken hat nicht nur Philosophie und Wissenschaft, sondern auch das deutsche Grundgesetz und die Vereinten Nationen geprägt […]. Seine Überlegungen zu Demokratie und Frieden, seine Reflexionen über Schönheit und Natur, seine Begründung von Moral und Recht und seine Erkundung der Grenzen menschlichen Wissens sind heute aktueller denn je. In einer Welt, in der Frieden und Demokratie bedroht sind wie lange nicht, in der wir unser Verständnis von Natur und Wissenschaft grundsätzlich überdenken und moralische Verantwortung auch für künftige Generationen übernehmen müssen, kann Kants Philosophie uns Orientierung geben“ (Marcus Willaschek S. 13).

ham, 13. Januar 2024

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