Erinnerungskulturen Band 7, herausgegeben von Aleida Assmann und Birgit Schwelling

transcript Verlag, Bielefeld, 2018, ISBN 978-3-8376-3994-0, 388 Seiten, 17 Schwarzweißabbildungen,
Broschur, Format 22,5 x 14,8 cm, € 33,99

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat in den 1920er Jahren das Konzept des kollektiven
Gedächtnisses entwickelt und zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis unterschieden. Das
kommunikative Gedächtnis gibt Erfahrungen und Traditionen auf mündlichem Weg weiter. Es umfasst einen
Zeitraum von etwa drei Generationen nach dem Ereignis. Danach fällt das in den ersten Generationen
Erinnerte dem Vergessen anheim. Im kulturellen Gedächtnis werden die Erinnerungen schriftlich für die
Nachwelt konserviert und zum Beispiel in der Gestalt von Bibliotheken aufbewahrt. Deshalb reicht das
kulturelle Gedächtnis weit über drei Generationen hinaus. Gleichwohl ist auch das kulturelle Gedächtnis
nicht gegen das Vergessen gefeit. Es stellt sich deshalb die Frage, warum im kulturellen Gedächtnis das eine
erinnert, anderes vergessen oder für Jahre unterdrückt wird und dann wieder zum Vorschein kommt. Susanne
C. Knittel geht dieser Dynamik von Erinnern und Vergessen am Beispiel deutscher und italienischer
Erinnerungskulturen in Grafeneck, in der Risiera di San Sabba und in der Foiba di Basovizza in Triest nach
und diskutiert, welche politischen, kulturellen, psychologischen und institutionellen Motive hinter der
Bejahung bestimmter Erinnerungen und der Verdrängung anderer stehen könnten. Sie interessiert sich dabei
insbesondere für das nationalsozialistische ›Euthanasie‹-Programm und den Umgang mit den Slowenen und
Kroaten in und um Triest. „Die Struktur dieses Buches ist von zwei marginalisierten Aspekten der Holocaust-
Erinnerung bestimmt: zum einen geht es um das nationalsozialistische ›Euthanasie‹-Programm, das sich
gegen geistig und körperlich behinderte oder als ›erbkrank‹ bezeichnete Menschen richtete, und zum anderen
um die Verfolgung der Slowenen und Kroaten in und um Triest durch die italienischen Faschisten und später
die NS-Besatzungsmacht“ (Susanne C. Knittel S. 27). Historisch gesehen markieren Grafeneck und die
Risiera di San Sabba den Anfangs- und Endpunkt des nationalsozialistischen Projekts der „Rassenreinheit“.

Das im Oktober1939 für Zwecke des Reichs beschlagnahmte Schloss Grafeneck bei Gomadingen wurde bis
Januar 1940 zum ersten „Euthanasie“-Tötungszentrum mit einer als Duschraum getarnter Gaskammer, einem
Krematorium mit zwei Öfen und einer Garage für die grauen Busse umgebaut, die die Menschen mit
geistigen und körperlichen Behinderungen nach Grafeneck bringen sollten. Damit wurde Grafeneck zum
Vorbild für weitere Tötungsanstalten und für Konzentrationslager. Die ersten Ermordeten stammten aus der
Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Zwischen Januar und Dezember 1940 wurden 10654 Behinderte vor
allem aus Baden, Württemberg und Bayern vergast und verbrannt. Der ehemaligen Reismühle von Triest, der
Risiera di San Sabba erging es ähnlich. Sie wurde in ein „nationalsozialistisch-faschistischen
Vernichtungslager“ überführt, „zu dessen Opfern Tausende jugoslawischer Partisanen, Juden und italienische
Antifaschisten gehörten“ (Susanne C. Knittel S. 27). Bei den Foibe-Massakern in den letzten Tagen des
Zweiten Weltkrieges warfen Bewohner des Dorfes Basovizza die Leichen von Menschen und Pferden sowie
die übrig gebliebene Munition in den alten Bergwerksschacht, der „schon vor den 1940er Jahren von
Faschisten und Nationalsozialisten genutzt wurde, um alle Arten von Abfällen und die Leichen politischer
Gegner loszuwerden. Was sich während der kurzen Besatzung Triests und seines Umlands durch
Jugoslawien an diesem Schacht ereignete, ist bis heute ungeklärt“ (Susanne C. Knittel S. 258 f.). Nach
Zeitungsberichten sollen Anfang Mai 1945 Hunderte von Zivilisten, die sich gegen die
Annexionsbestrebungen Jugoslawiens gestellt hatten, exekutiert und in den Schacht geworfen worden sein.

„Die direkten Zusammenhänge zwischen NS-›Euthanasie‹ als einer systematischen Vernichtung von
›lebensunwertem Leben‹ und der ›Endlösung‹ sind mittlerweile gut belegt. So wurde […] nach 1941 ein
großer Teil des Personals der ›Euthanasie‹-Tötungsanstalten in die Vernichtungslager im Osten versetzt […].
Horst Schuhmann etwa war Direktor von Grafeneck, bevor er Leiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein
wurde, und kam schließlich 1941 zum Einsatz nach Auschwitz. 1942 wurde eine erhebliche Anzahl von
Mitgliedern der ›Aktion T4‹ nach Lublin geschickt, wo sie im Rahmen der ›Aktion Reinhard‹ SS- und
Polizeiführer Odilo Globocnik unterstellt waren. Besonders auffällig ist die Karriere […] von […] Christian
Wirth: Er arbeitete zunächst als Polizist in Stuttgart, leitete dann sowohl den Verwaltungsbereich als auch die
Vergasungen in Grafeneck und Hartheim, und wurde später Kommandant und Generalinspekteur aller Lager
der ›Aktion Reinhard‹. Nach dem Ende der ›Aktion Reinhard‹ wurden Wirth, andere ehemalige Mitarbeiter
der ›Aktion T4‹ und Globocnik von Lublin nach Triest versetzt, um dort Partisanen zu bekämpfen, die
Deportation der Juden aus der Region zu koordinieren und in der Risiera di San Sabba […] ein
Konzentrationslager und ein Tötungszentrum einzurichten“ (Susanne C. Knittel S. 62).

Gleichwohl wurden die Opfer von Grafeneck bis vor kurzem nicht zu den Opfern des Holocaust gezählt. Im
Triester Erinnerungs- und Gedenkdiskurs wurde die faschistische Vergangenheit ausgeblendet und die
Verantwortung für die Opfer an die Partisanen und die Nationalsozialisten delegiert.

Erinnerungsarbeit kommt diesen Lücken nach Knittel am ehesten dann auf die Spur, wenn sie die Erinnerung
nicht an den spezifischen geografischen Ort bindet, an dem das historische Ereignis stattfand, sondern
darüber hinaus an „ein sich mit der Zeit um ein bestimmtes Ereignis oder eine Erinnerung herum anlagerndes
Konglomerat kulturellerer Artefakte und Diskurse. Mit dem Begriff Ort bzw. Erinnerungsort ist demnach
sowohl ein materieller als auch ein kultureller Raum gemeint, der kontinuierlich neu definiert und
überarbeitet wird. Ein so verstandener Erinnerungsort setzt sich also aus heterogenen Elementen zusammen,
die sich gegenseitig vervollständigen oder infrage stellen. Mit Deleuze gesprochen kann man einen
Erinnerungsort als ein Rhizom beschreiben, das aus mehreren Knotenpunkten zusammengesetzt ist, die sich
in einem permanenten Prozess der Deterritorialisierung und der Reterritorialisierung befinden. Er kann neben
offiziellen, geographisch verortbaren Komponenten wie Gedenkstätten oder Museen auch nichtoffizielle oder
populärkulturelle Elemente beinhalten, etwa Theaterstücke, Romane oder sonstige Kunstwerke, in denen
eine alternative oder abweichende Sicht auf denselben Erinnerungskomplex zum Ausdruck kommt. Literatur
spielt in dem so entstehenden dynamischen Prozess eine wichtige Rolle, weil es sich bei ihr […] um ein
selbstreflexives Medium der Erinnerung handelt, was dazu führt, dass Fragen der Repräsentation in den
Blick kommen“ und verdrängte und vergessene Aspekte der Vergangenheit zutage gefördert oder historische
Fakten auf eine Weise verfremdet werden, „dass sie als ›anders‹ wahrgenommen werden“ (Susanne C.
Knittel S. 21 f.).

Das Erinnerungsorten eigene Potenzial, die Identität und das Selbstbild infrage zu stellen, „ist ein
entscheidendes Merkmal des Unheimlichen in der Geschichte. Kurz: ein Erinnerungsort […] macht
Geschichte unheimlich“ (Susanne C. Knittel a. a. O.). Letztlich wird es aber nur der politischen und
kulturellen Bildung gelingen, das irritierende Potenzial des Unheimlichen auszuloten und eine bleibende
Verbindung zur Vergangenheit herzustellen. „Die Erinnerung an die NS-›Euthanasie‹ wurde teilweise wegen
der Heterogenität ihrer Opfer an den Rand gedrängt“. Da sie keine Erinnerungsgemeinschaft im
konventionellen Sinne bilden, d. h. juristisch, linguistisch, kulturell oder religiös, „hat sich keine
Interessenvertretung etabliert, die in ihrem Namen hätte sprechen können. Für die rechtliche und
wirtschaftliche Perspektive, die das öffentliche Gedenken hauptsächlich prägt, waren die Opfer der
NS-›Euthanasie‹ schlicht unsichtbar. Ein nationales oder transnationales Erinnerungsprojekt darf sich daher
nicht ausschließlich auf eine Top-down-Perspektive verlassen, da dies notwendigerweise im Ausschluss oder
in der Marginalisierung von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften resultiert, die nicht in die bestehenden
Muster passen […]. Das Ziel eines zukunftsorientierten transnationalen […] Erinnerungsprojekts muss also
sein, unseren Sinn für die Unheimlichkeit unserer eigenen Geschichte und Erinnerung zu schärfen“ (Susanne
C. Knittel S. 352 ff.).

ham, 11. Juli 2018

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