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Miwa Ogasawara, Unausgesprochen

Von Helmut A. Müller | In Künstlerbuch

Künstlerbuch, entworfen von Vera Rammelmeyer mit Aufsätzen von Kristine Bilkau, Nicola Graef und Sayako Mizuta

Hirmer Verlag, München 2021, ISBN: 978-3-7774-3717-0, 116 Seiten, Hardcover gebunden, zahlreiche Abbildungen, Format 27,5 x 21,5 cm, € 29,90 (D) / 30,80 (A); CHF 36,80

Die Malerei der 1973 in Kyoto geborenen und seit 1992 in Hamburg lebenden Miwa Ogasawara zeichnet sich durch ein blassgraues Kolorit, den fast völligen Verzicht auf Farbe, luftige Raumauffassung, konzentrierte Atmosphären und Zeitlosigkeit aus. Malerei bedeutet für sie, „das innere Leben des Menschen zu reflektieren – das, was seine Existenz und sein in der Welt sein im Innersten betrifft. Für mich kann gerade Malerei, die ja einfach nur etwas zeigt, statt es beispielsweise in Worten auszuloten, das leisten, wenn sie versucht, Momente des Unsagbaren einzufangen. Genau das bedeutet das Arbeiten am Bild. Ich entdecke solche Momente im Alltag und nah an der Erscheinung der Dinge. Alles liegt bereits darin und steht vor Augen – wenn man es sehen kann: wie wir leben, wie wir uns fühlen, wie wir denken, wie wir beobachten, wie wir wahrnehmen, verschweigen, wie wir zerstören, wie wir uns lieben, hassen und irgendwann sterben … Meine Malerei geht von der Aufmerksamkeit für das Existenzielle im Leben aus, davon, wie es sich manchmal auch im Kleinsten zeigen kann. Malerei ist für mich ein Projektionsraum, um solche Momente zu erspüren, und auch ein Feld, in dem ich sie verdichten und poetisieren kann. Malerei darf deshalb niemals illustrativ sein oder allzu direkt“ (Miwa Ogasawara, Über meine Malerei, Hamburg 2018. In: https://www.miwaogasawara.de/statement/).

Ihr Künstlerbuch ›Unausgesprochen‹ vereinigt eine Serie von Porträts, Zwischenräumen, Landschaften, Himmels- und Sternbilder und Glaskugeln (vergleiche dazu Miwa Ogasawara, Works. In: https://www.miwaogasawara.de/works/). Nicola Graef stellt in ihrem Essay über die Menschenbilder von Ogawasara fest, dass einen Menschen zu lesen so komplex ist, wie selbst ein Mensch zu sein. „Denn jeder Lesende bringt seine Interpretationen mit, geprägt von eigenen Erfahrungen, eigenen Erinnerungen, der Situation, in der er sich gerade befindet. So wird dieses Lesen zu einer Angelegenheit, die keinen Anfang und kein Ende kennt. Es bleibt immer etwas Unentschlüsselbares zurück und die Erkenntnis, dass es unmöglich ist, ein Gegenüber in Gänze zu erfassen. Und doch geht es uns oft um genau diese Sehnsucht: gesehen und gelesen zu werden, sich verstanden und aufgehoben zu fühlen. Es ist ein großes Glück, wenn das passiert. Miwa Ogasawara löst dieses Dilemma, das Wesen des Menschen erfassen zu wollen und es doch nicht können, auf ihre ganz spezifische Weise. Ihre Malerei bleibt im Vagen, im Ungefähren, in der Andeutung. Es gibt keine Details, keine klaren Konturen. Die Künstlerin maßt sich nicht an, die vollständig Sehende zu sein, sie destilliert aus ihren Beobachtungen die Essenz des Menschseins. Darin liegt die Kraft ihrer Werke“ (Nicola Graef, Vom Versuch zu sehen. Der Mensch im Bild, S. 31).

Nach Sayako Mizuta können uns Ogasawaras Werke nach wiederholtem Betrachten helfen, die darin dargestellten Schwankungen und inneren Konflikte zu entdecken und uns unserer körperlichen und emotionalen bewusst zu werden. „Der Raum in Ogasawaras Bildern ist eng mit unseren Gefühlen verbunden, doch dieser gemalte Raum ist bestimmt von unserer Umwelt: der aktuellen gesellschaftlichen Lage, von Politik und Kultur … Doch Ogasawara weiß, dass es nicht die Aufgabe der Kunst ist, solche Problematiken eins zu eins ins Bild zu setzen. Maler sind nicht Schriftsteller oder Architekten. Sie zeichnen keine Pläne und denken sich keine Geschichten aus, aber vielleicht können die Betrachter vom Bild ausgehend einen Entwurf oder eine Geschichte entwickeln. In der Begegnung mit Ogasawaras Werk erfahren wir, wie Geschichten … die Wahrnehmung als solche sowie eine anders geartete raumzeitliche Ordnung auszudrücken vermögen, und so treten wir … mit einer neuen Wirklichkeit in Kontakt“ (Sayako Mizuta, Von der Erkenntnis einer raumzeitlichen Illusion, S. 69 f.). 

Für Kristine Bilkau sind Ogasawaras Malereien Gedankenräume, die sie an tragende Sätze ihrer Mutter, die Weite des Universums und den Raum erinnern, der sich zwischen zwei Menschen befindet. Als Schriftstellerin hat sie sich immer wieder gefragt, wie sie einen Ausdruck für eine Gegenwart findet, die immer durchwachsen ist von Erinnerungen, Hoffnungen und Wünschen, einer Ahnung von Verlust und Vergänglichkeit. „»Mach dir keine Sorgen. Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben«, sagte meine Mutter zu mir, in einem unserer letzten Gespräche … Auf wundersame Weise verbinden sich die Worte meiner Mutter mit den Bildern von Ogasawara, denn in ihren Bildern finde ich sie wieder, diese weitläufigen Gedankenräume: der Blick hoch in einen unruhigen Wolkenhimmel, darin Vögel, von denen sich einige im Grau verlieren. Regentropfen, in denen sich das Licht fängt. Schäumende Wellen, die sich an einem Strand brechen. Eine diffuse Landschaft, wie sie an uns während einer Bahnfahrt vorbeizieht, die Sonne steht tief am Himmel, ein Tag neigt sich seinem Ende zu – oder er bricht gerade an“ (Kristine Bilkau, Gedankenräume, S. 101 und 104).

Ankäufe unter anderem durch das Centre Pompidou, Paris, die Sammlung Zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland, die zeitgenössische Gemäldesammlung 1223 Genaika, Tokio und das Arario Museum, Seoul unterstreichen, wie hoch Ogasawaras Werke eingeschätzt werden.

ham, 3. November 2021

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