Klett-Cotta, J.G. Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart 2022, ISBN: 978-3-608-98482-8, 407 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, zahlreiche schwarz-weiße Abbildungen, Format 22 x 14,5 cm,
€ 32,00 (D) / € 32,90 (A)

Über den am 10. November 1483 in Eisleben geborenen und am 18. Februar 1546 ebendort verstorbenen späteren Augustinermönch, Professor für Bibelauslegung und Reformator Martin Luther ist schon so Unterschiedliches und Widersprüchliches geschrieben worden, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Deshalb verwundert es, dass die heute am Regius-Lehrstuhl an der Universität Oxford Geschichte mit dem Schwerpunkt frühe Neuzeit lehrende Australierin Lyndal Roper schon fünf Jahre nach ihrer 2016 erschienene viel gerühmte Luther-Biografie ihren Reader »Living I Was Your Plaque. Martin Luther’s World and Legacy« folgen ließ, der jetzt bei Klett-Cotta auf Deutsch vorliegt (vergleiche dazu https://literaturkritik.de/roper-mensch-martin-luther-martin-luther-ganz-nah-oxford-historikerin-lyndal-roper-schaut-auf-menschen-luther,23611.html und https://www.klett-cotta.de/buch/Geschichte/Im_Leben_war_ich_Eure_Plage/452268 ).

Aber wenn man liest, dass Roper im Jahr 2017, in dem sich der Anschlag der 95 Thesen zum 500. Mal jährte, zu über hundert Vorträgen in Europa und Jerusalem eingeladen worden ist, versteht man, dass sie ihr wichtige Einsichten bündeln und auf Dauer stellen wollte. Das harsche Bild eines dominanten, herrschsüchtigen und polemischen Luther, das dabei entsteht, hat dann aber kaum mehr etwas mit dem Luther der Freiheitsschrift von 1520 („Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Vergleiche dazu https://www.luther2017.de/martin-luther/texte-quellen/lutherschrift-von-der-freiheit-eines-christenmenschen/index.html) und auch wenig mit dem ihm zugeschriebenen selbstbewussten Auftritt auf dem Reichstag zu Worms zu tun: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Amen“.

Roper setzt mit ihren Erinnerungen an die Emotionen ein, die sie 2017 beim Besteigen der Kanzel der Wittenberger Stadtkirche hatte, also der Kanzel, auf der Luther gepredigt hat. Sie konnte zu ihrer Überraschung nicht aufhören, an die am Turm angebrachte »Judensau« aus dem späten 13. Jahrhundert zu denken, über deren Verbleib seit Jahren gestritten wird (vergleiche dazu etwa den jüngst an den Bundesgerichtshof gestellten Antrag, dass dieses antisemitische Machwerk entfernt werden muss: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wittenberg-bgh-101.html). Nach dem Gottesdienst wurde sie gebeten, auf Fragen der Gemeinde zu antworten, so auch auf die Frage, warum sie behauptet hatte, dass Luther antisemitisch war und nicht antijudaistisch. Ihr sei dann Friedrich Schorlemmer mit dem Hinweis beigesprungen, dass er sich alle einschlägigen Passagen in Luthers Werk angesehen und Jahre damit zugebracht habe, sie zu analysieren.

Das hinter der Frage liegende begriffsgeschichtliche Problem kann vielleicht so skizziert werden: Wenn man die begriffliche Neuschöpfung »Antisemitismus« an sein erstes Aufkommen im Jahr 1879 bindet und darunter eine rassistische Ideologie versteht, kann man im 16. Jahrhundert schwerlich von Antisemitismus sprechen. Nach dem »Antisemitismus« in diesem Sinn galten die Juden als die besondere Rasse, die die Kultur und das Leben in Europa in Gefahr bringen. Im 20. Jahrhundert wurde der »Antisemitismus« zur offiziellen Ideologie verschiedener europäischer politischer Parteien und diente schließlich auch zur Rechtfertigung des Holocaust. In seiner heute üblichen weiteren Fassung kann der Begriff aber durchaus auch auf Luther angewendet werden.

»Antisemitismus« in diesem weiteren Sinn zeigt sich für Roper unter anderem in seiner Schmähschrift ›Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi‹ von 1543, in der er den über der »Judensau« eingravierten, nach jüdischer Auffassung unaussprechlichen Namen Gottes ›Scham Hamphoras‹ aufgreift (vergleiche dazu etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Vom_Schem_Hamphoras). Luther stellt sich vor, „wie Juden den Teufelsexkrementen huldigen: ›Der Teufel hat in die N. [Hosen] geschissen und den Bauch abermals geleert, das ist ein rechtes Heiligtum, das die Juden und was Jude sein will, küssen, fressen, saufen und beten sollen‹. Und er fährt fort zu beschreiben, wie der Teufel Mund, Nase und Ohren der Juden mit Schmutz füllt: ›Da schmeisst und spritzt er sie auch so voll, dass es an allen Orten von ihnen aussschwadert und schwemmt eitel Teufels Dreck, ja, der schmeckt ihnen ins Herz, da schmatzen sie wie die Säue‹, Luther beschwört hier ein abwegiges Bild von Juden herauf, die sich mit Teufelskot vollstopfen, ein Bild, das dazu dienen sollte, heftigen Abscheu hervorzurufen“ (Lyndal Roper S. 205 f.). Von dem werbenden Ton seiner früheren Schrift ›Das Jesus Christus ein geborener Jude sei‹, Augsburg 1523, ist hier nichts mehr zu spüren (vergleiche dazu https://www.bavarikon.de/object/bav:BSB-CMS-0000000000001261).

Diesen widerwärtigen Ton möchte man als Protestant liebend gerne verschweigen oder noch besser ganz vergessen. Aber das lässt Roper nicht zu. „Ich spürte, dass ich auf die weniger angenehmen Seiten seines Erbes eingehen musste. Vor allem musste ich einen der Aspekte kritischer unter die Lupe nehmen, die ich an Luther am meisten liebte: sein lautstarkes maskulines Auftreten … Wenn wir über Männlichkeit nachdenken … kann uns das dabei helfen, Luther anders einzuschätzen. Man könnte zum Beispiel eine Geschichte der Reformation anhand der Gesichtsbehaarung von Luther schreiben: Der glattrasierte Mönch mit Tonsur machte dem struppigen, unrasierten, schnurrbärtigen Luther Platz, als dieser sich als Edelmann verkleidet auf der Wartburg versteckte. Der reife Luther sieht wieder rasiert aus, doch die Stoppeln auf seinem vorspringenden Kiefer sind normalerweise sichtbar. Die Werkstatt Cranachs gab sich alle Mühe, Luther als einen virilen, potenten Mann zu zeigen, als eine Figur, die sich von einem zurückhaltenden Mönch deutlich unterschied. Man könnte sogar argumentieren, dass die Reformation in der Geschichte der Männlichkeit einen echten Moment des Wandels markierte, insofern sie das Ideal des Zölibats ablehnte, den Papst als effeminiert verspottete sowie Mönche und Priester abschaffte. Die protestantischen Pastoren sollten nun wie die Stadtväter und würdevollen Bürokraten … Patriarchen sein. Anstelle einer Vielzahl von Formen der Männlichkeit schätzen die Lutheraner nur eine.

Eine Kulturgeschichte dieser Art hat zweifellos ihre verführerischen Seiten, doch unsere Darstellung muss komplexer ausfallen, weil Männlichkeit niemals einheitlich ist und Individuen ihre sexuellen Identitäten selbst gestalten. Schließlich wird Luther auch schon sehr früh in Doppelporträts mit dem sehr viel weniger viril wirkenden Melanchthon abgebildet (vergleiche dazu Thomas Kaufmann, Neues von „Junker Jörg“,
S. 46. In: https://publikationen.klassik-stiftung.de/servlets/MCRFileNodeServlet/ksw_derivate_00000189/Konstellationen_2_JunkerJoerg_ThomasKaufmann.pdf). Das maskuline Imponiergehabe des Reformators und sein tyrannischer Antagonismus gegenüber den Juden waren aus ein und demselben Stoff“ (Lyndal Roper S. 19 ff.). Zu Ropers Sicht auf Luthers Männlichkeit tritt in ihrer Darstellung sein komplizierter Charakter und die Diskussion darüber, „wie wir großer Männer gedenken, ohne ihre Schwächen und Gewaltaffinität aus den Augen zu verlieren“ (Lyndal Roper S. 15), weiter Lucas Cranachs des Älteren mediale Schöpfung eines bis heute nachwirkenden Lutherbilds, Luthers Visionen und Träume, seine Auseinandersetzung mit dem Papst und den Gegnern aus den eigenen Reihen, das beim Reformationsjubiläum 2017 gezeichnete vielfältige Lutherbild und die psychohistorische Auswertung seiner Tischreden und Texte.

Am anfechtbarsten ist wohl Ropers psychohistorische Deutung der Quellen, weil sich die Dialektik von individueller und gesellschaftlicher Dynamik schwer gleichrangig austarieren lässt und die Gefahr besteht, die psychische Determinanten überzubewerten (vergleiche dazu Friedhelm Nyssen, Peter Jüngst ⟨Hg.⟩, Kritik der Psychohistorie. Anspruch und Grenzen eines psychologistischen Paradigmas). Die Psychohistorie untersucht historische Vorgänge mit Mitteln der Psychologie und Psychoanalyse und versucht, die bewussten und unbewussten Motive historischer Subjekte aus den vorhandenen Quellen zu erschließen (vergleiche dazu und zum Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Psychohistorie und Erik H. Eriksons ›Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie‹, 1958: https://www.suhrkamp.de/buch/erik-h-erikson-der-junge-mann-luther-t-9783518467114). Wer schon einmal eine Psychoanalyse durchgemacht hat, weiß, wie vielfältig und widersprüchlich innere Motive sein können und wie unendlich schwer es ist, definitiv zu sagen, welches Motiv zu welchem Verhalten geführt hat. Wer bewusste und unbewusste Motive aus historischen Quellen erschließen möchte, begibt sich aufs Eis und kann mit seinen Schlüssen gewaltig daneben liegen.

Gleichwohl spricht viel dafür, dass man Luther mit Roper von seinem Sockel herunterholen und wieder auf den Boden stellen muss. Über die Frage, ob der Playmobil-Luther in seiner ganzen Spleenigkeit, seiner Ironie und mit seinen Beschränktheiten „alles in allem … das beste Denkmal für das Lutherjahr 2017“ war (Lyndal Roper S. 283), wird man freilich streiten müssen.

ham, 9. Juni 2022

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