Aus dem Englischen von Annabel Zettel

Titel der englischen Originalausgabe: «Novacene. The Coming Age of Hyperintelligence»
© James Lovelock and Bryan Appleyard, 2019. Die Originalausgabe ist 2018 bei Allen Lane, an imprint of Penguin Books, London, erschienen. 

Verlag C.H.Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-74568-3, 160 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 21 x 13 cm, € 18,00

Der am 31.12. 2019 bestätigte Ausbruch einer neuen Lungenentzündung unbekannter Ursache in Wuhan erhielt im Februar 2020 auf Vorschlag der Weltgesundheitsorganisation den Namen Covid-19. Covid-19 hält seither die Welt in Atem und ist nach dem Soziologen Hartmut Rosa zur Manifestation des Alptraums der Moderne geworden. Es „symbolisiert und manifestiert das radikale Unverfügbarwerden der Welt“ (Hartmut Rosa, Wir können die Welt verändern. In: Die Zeit, Beilage Christ und Welt, 28.4.202, S. 2). In das Nachdenken von James Lovelock über das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz ist Covid-19 noch nicht eingeflossen. Der beim Erscheinen der englischen Originalausgabe von ›Novozän‹ fast 100 Jahre alte Schöpfer der Gaia-Hypothese, unabhängige Wissenschaftler und Ingenieur (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/James_Lovelock) sorgt sich vielmehr um die mit dem Anthropozän beginnende Erderwärmung und mögliche Meteoriteneinschläge, die Gaia und die Menschheit vernichten könnten. Aber er rechnet in seiner Fiktion ›Novozän‹ geradezu damit, dass Gaia im Novozän auf dem Umweg über den Menschen Cyborgs mit so hoher künstlicher Intelligenz hervorbringen wird, dass Gaia und zumindest die Cyborgs überleben.

Lovelock freut sich, in einer Zeit zu leben, in der es möglich war, ein ganzheitliches Verständnis der Erde und ihres Platzes in der natürlichen Umgebung des Sonnensystems zu entwickeln. „Die Erweiterung des Wissens über unseren Planeten durch den zusätzlichen Betrachtungswinkel aus dem All ruft maßgeblich dazu bei, dass wir begannen, über die schädlichen Folgen des Klimawandels nachzudenken, vor allem über die Veränderungen, die der ständig zunehmenden Verschmutzung von Oberfläche und Atmosphäre der Erde geschuldet sind. Das Anthropozän hat, vor allem in den letzten Jahren, … einen enormen Zuwachs an verfügbarer Information produziert … Nachdem das Anthropozän zunächst damit angefangen hat, die Kraft des Sonnenlichts durch den Abbau von Kohle zu ernten, erntet es heute die gleiche Kraft, nutzt aber seine Energie, um Informationen zu gewinnen und zu speichern … Unsere Herrschaft über die Information sollte uns mit Stolz erfüllen, aber wir müssen dieses Geschenk weise einsetzen, um der Evolution allen Lebens auf der Erde bei ihrem Fortbestehen zu helfen, so dass der Planet mit den ständig zunehmenden Gefahren … fertig werden kann. Unter den Milliarden von Spezies, die aus dem Energiefluss der Sonne Nutzen gezogen haben, sind wir allein diejenigen, die sich mit der Fähigkeit entwickelt haben, den Photonenfluss in Informationsbits zu verwandeln und diese so zusammenzufügen, dass die Evolution vorangetrieben wird. 

Unsere Belohnung ist die Möglichkeit, etwas über das Universum und uns selbst zu verstehen. Wenn das anthropische kosmologische Prinzip herrscht – wie ich das glaube –, dann scheint das primäre Ziel die Umwandlung aller Materie und Strahlung in Information zu sein. Dank der Wunder des Zeitalters des Feuers haben wir den ersten Schritt getan. Wir stehen nun an einem kritischen Punkt in diesem Prozess, dem Moment, in dem das Anthropozän dem Novozän weicht. Das Schicksal des werdenden Kosmos hängt nun von unserer Reaktion ab“ (James Lovelock S. 95 f.). 

Das Novozän beginnt mit der Entwicklung von »Deep Learning«-Technologien (vergleiche dazu etwa https://scholar.google.de/scholar?q=deep+learning+technologien&hl=de&as_sdt=0&as_vis=1&oi=scholart), die bei dem von Google DeepMind entwickelten Computerprogramm AlphaGo (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/AlphaGo) eingesetzt worden sind. AlphaGo schlug im Oktober 2015 einen professionellen Go-Spieler. Garry Kasparow, der wohl größte Schachspieler, war1997 von dem IBM-Computer DeepBlue (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Deep_Blue) geschlagen worden. Go (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel)) ist wesentlich komplexer als Schach. Weiße und schwarze Steine werden auf einem Gitter aus 19 x 19 schwarzen Linien gesetzt mit dem Ziel, so viel Territorium einzukreisen wie möglich. Damit können auf einen Zug 250 mögliche andere Züge folgen. Bei Schach sind es nur 35. DeepBlue war mit einer riesigen Menge früherer Schachspiele gefüttert worden und hatte anstehende mit bisher gespielten Zügen verglichen. „AlphaGo nutzte zwei Systeme – maschinelles Lernen und Baumsuche –, die die vom Menschen eingegebenen Daten mit den Fähigkeiten der Maschine, sich selbst Dinge beizubringen, kombinierten. Das war ein riesengroßer Schritt nach vorn, aber ein noch größerer folgte. 2017 kündigte DeepMind zwei Nachfolger an: AlphaGo Zero (vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/AlphaGo_Zero) und Alpha Zero (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/AlphaZero), von denen keiner menschlichen Input nutzte. Der Computer spielte einfach gegen sich selbst. Alpha Zero machte sich binnen 24 Stunden einfach zum übermenschlichen Spieler von Schach, Go und Shogi (auch als japanisches Schach bekannt). Bemerkenswert ist, dass AlphaGo nur 80 000 Aufstellungen pro Sekunde prüfte, Stockfisch, das beste konventionelle Programm durchsuchte 70 Millionen“ (James Lovelock S. 100). Wenn man davon ausgeht, dass ein Mensch 10 000 Stunden braucht, um Schach, Klavier oder andere hochqualifizierte Tätigkeiten zu lernen, ist Alpha Zero also mindesten 400-mal so schnell wie ein Mensch.

Cyborgs, also von Menschen ausgedachte und sich dann selbst weiterentwickelnde KI-basierte Maschinen könnten nach Lovelock theoretisch eine Million mal schneller sein als ein Mensch, praktisch aber wohl mindestens 10 000-mal. „AlphaZero erlangte zwei Dinge: Autonomie – es brachte sich selbst etwas bei – und übermenschliche Fähigkeiten. Niemand hatte erwartet, dass das so schnell passieren würde. Das war ein Zeichen, dass wir bereits ins Novozän eingetreten sind. Es ist nun wahrscheinlich, dass eine neue Form von intelligentem Leben aus einem Künstliche Intelligenz (KI)-Vorgänger entstehen wird, den einer von uns gemacht hat, vielleicht aus so etwas wie AlphaZero … Hier ist ein Beispiel … Unter Verwendung von »Deep Learning«-Technologien wie AlphaGo haben Wissenschaftler in Singapur einen Computer entwickelt, der Ihr Herzinfarktrisiko voraussagen kann, indem er Ihnen in die Augen sieht“ (James Lovelock S. 103). Das Novozän dreht sich wie das Anthropozän nach Lovelock um technische Wissenschaft und Ingenieurskunst und läuft darauf zu, dass wir Maschinen auffordern, neue Maschinen zu machen. „Eine neue Welt ist im Bau. Dieses neue Leben – denn genau das ist es – wird weit über die Autonomie von AlphaZero hinausgehen. Es wird in der Lage sein, sich zu optimieren und zu reproduzieren. Fehler in diesen Prozessen werden korrigiert, sobald sie entdeckt werden. Die natürliche Selektion, wie Darwin sie beschrieb, wird durch eine viel schnellere intentionale Selektion abgelöst werden. 

Wir müssen uns also eingestehen, dass uns die Evolution von Cyborgs bald aus der Hand gleiten könnte … In erheblichem Maße entwerfen sie sich selbst … Lebendige Cyborgs werden aus dem Schoß des Anthropozäns hervorkommen. Wir können fast sicher sein, dass eine elektronische Lebensform wie ein Cyborg niemals zufällig vor dem Anthropozän aus den anorganischen Bestandteilen der Erde hätte entstehen können. Ob sie wollen oder nicht, das Auftauchen von Cyborgs ist nicht vorstellbar ohne die gottähnliche – oder elternähnliche – Rolle von uns Menschen“ (James Lovelock S. 106).

Cyborgs, wie Lovelock sie sich vorstellt, könnten die Form eines parallelen Ökosystems annehmen, „Das vom Mikroorganismus bis zu tiergroßen Entitäten reicht. Mit anderen Worten, es würde sich um eine andere Biosphäre handeln, die mit derjenigen, die wir jetzt haben, koexistiert“ (James Lovelock S. 121). Sie hätten eine andere Art von Sprache, könnten Gedanken lesen und würden die Teleportation beherrschen. Sie könnten freundlich oder feindlich sein; aber sie hätten um des Zustands der Erde willen keine andere Wahl, als mit uns gemeinsame Sache zu machen. Sie könnten vielleicht hitzereflektierende Spiegel im All entwickeln, um das Problem der Erderwärmung zu lösen. Oder Meerwasser versprühen, um feine Salzpartikel zu erhalten, die in der feuchtwarmen Luft über der Meeresoberfläche als Kondensationskerne zur Bildung von Wolken dienten, welche das Sonnenlicht reflektieren. Kurz- und mittelfristig rechnet Lovelock mit einer Zusammenarbeit zur Erhaltung der Erde als lebendem Planeten; aber die Zukunft ist unvorhersehbar. „Cyborgs werden Cyborgs entwerfen. Sie werden keineswegs als minderwertige Lebensform weitermachen, die uns Bequemlichkeiten verschafft, sondern sie werden sich entwickeln und könnten die fortschrittlichsten evolutionären Produkte einer neuen und kraftvollen Spezies sein. Und gäbe es nicht die alles beherrschende und überwältigende Präsenz Gaias, dann wären sie im Handumdrehen unsere Meister“ (James Lovelock S. 149).

Letztlich rechnet Lovelock aber doch damit, dass die Erde mit Menschen und Cyborgs, aber womöglich auch nur mit Cyborgs überlebt. Auch Hartmut Rosa setzt aufs Überleben, obwohl noch nicht abzusehen ist, ob das Corona-Virus je wieder aus der Welt zu schaffen ist. Rosa glaubt wie Lovelock, dass der Mensch entscheidenden Einfluss auf das Weiterleben hat. Hoffnung geben ihm aber keine Cyborgs, sondern der Nationalstaat, der sich in der Corona-Krise nicht dem Verlangen der Finanzindustrie und der Wirtschaft gebeugt, sondern das biologische und soziale Leben als systemrelevant bezeichnet hat. „Was hier aufscheint oder aufschien, ist die Priorität der Reproduktionslogik vor der Produktionslogik“ (Hartmut Rosa, Pfadabhängigkeit, Bifurkationspunkte und die Rolle der Soziologie. Ein soziologischer Deutungsversuch der Corona-Krise. In: Berliner Journal für Soziologie 2020, 30, S. 204). „Es geht Rosa in einer auf Wachstum getrimmten Gesellschaft der Moderne um ein positiv-kritisches, hoffnungsvolles Verstehen der Welt in einer anderen Sprache, um einen aus der Zurücknahme von Autonomie sich ergebenden Prozess der Bekehrung hin zu einer ›besseren Welt‹. Um eine Rekonstruktion von Sinn, von zukunftsfähiger Sinnhaftigkeit des Handelns oder des Daseins überhaupt“ (Jörg Hübner, Leitbilder für eine zukunftsfähige Gesellschaft nach der Corona-Krise. Eine ethische Auseinandersetzung mit Hartmut Rosas Resonanzkonzept. In: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 10/2021, S. 631). Rosa denkt also über sinnhaftes menschliches Handeln im Kontext von Nationalstaaten nach und nicht über das Überleben der Erde in kosmischen Zusammenhängen. Damit ist die Reichweite seiner Sozialtheorie sehr viel bescheidener als Lovelocks kosmische Fiktion, dafür aber im Hier und Jetzt überprüfbar.

Noch ein Blick über den Tellerrand der fiktionalen und soziologischen Vorstellungswelten hinaus: Bis zum 12. Januar 2022 sind in dem postmodernen Raum der Turbinenhalle der Tate Modern in London Arbeiten der 1971 in Seoul geborenen und in New York lebenden koreanischen Konzeptkünstlerin Anicka Yi zu sehen, die an der Schnittstelle von KI, Wissenschaft, ökologischen Systemen und Kunst arbeitet (vergleiche dazu anicka yi tate und Hyundai-Kommission: Anicka Yi: Verliebt in die Welt). Die von ihr in Zusammenarbeit mit Spezialisten für die Tate geschaffenen animalischen Cyborgs bewegen sich eigenständig und frei im Raum, erinnern an einen luftigen Reigen und sind mit Gerüchen aus der Erdgeschichte verbunden. Der Kritiker der Süddeutschen Zeitung Alexander Menden (vergleiche dazu und zum Folgenden Arnika Yi in der Londoner Tate Modern. Es riecht nach Kunst. In: SZ vom 18. Oktober 2021; https://www.sueddeutsche.de/kultur/tate-modern-anicka-yi-london-1.5451571) konstatiert: „Die Frage hinter diesem Luftballett lautet: Wie wäre es, die Welt mit Maschinen zu teilen, die in freier Wildbahn leben und sich eigenständig weiterentwickeln könnten? Die 50-jährige Koreanerin, die gern an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft arbeitet, wollte die Turbinenhalle zu einem Ökosystem für lebendige Maschinen, animalische Cyborgs ohne organische Elemente umwandeln. Yi nennt diese evolutionären Maschinen ›Aeroben‹ – die dicklichen heißen Planulae, die Tentakelbewehrten Xenojellies, also ungefähr: ›Fremdpudding‹. Sie hat sich nach eigener Aussage an Meereslebewesen und Pilzen orientiert. ›Wie der Tanz einer Biene oder die Duftspur einer Ameise kommunizieren die Aerobier auf eine Weise, die wir nicht verstehen können‹, erklärt die Tate“ (Alexander Menden a. a. O.). 

Für Menden löst sich die Vorstellung einer sich selbst weiterentwickelnden Maschinenpopulation aber überraschend schnell auf. „Tatsächlich ist der rein ästhetische Eindruck, den man gewinnt, wenn man sich genügend Zeit für den luftigen Reigen nimmt, beruhigend, wie bei einer Lavalampe, oder beim Drachensteigen. Das sanfte Zischen, die Gerüche, das alles dominiert den riesigen Raum scheinbar mühelos. Doch die Idee einer sich selbst evolutionär fortentwickelnden Maschinenpopulation greift nie so recht. Das liegt zum einen daran, dass diese Kreaturen in abgesperrten – aber von der Traversbrücke leicht einsehbaren – Bereichen im hinteren Teil der Halle immer wieder gewartet und mit Gas befüllt werden müssen. Die Illusion ihrer existentiellen Autonomie hält nicht lange vor: Es sind drohnenbetriebene Ballons. Die Tentakel der Xenojellies haben keine Funktion, ebenso wenig wie die knolligen Auswüchse der Planulae. Und es gehört einfach mehr zu einem Ökosystem als zwei Spezies. Am Ende ist diese Arbeit wohl am meisten zu genießen, wenn man sie als sanfte Intervention wahrnimmt, als versonnene Freizeitpark-Attraktion“ (Alexander Menden, a. a. O.). Andere kritisieren, dass Yi das Festo-Projekt eines ersten Indoor-Flugobjekts mit peristaltischem Antrieb ›AirJelly‹ (vergleiche dazu https://www.festo.com/group/de/cms/10244.htm) kopiert und es versäumt hat, die Nutzung dieses Projekts zu würdigen oder eine Lizenz für die Nutzung zu erhalten, obwohl sie wesentlich von ›AirJelly‹ profitiert hat (vergleiche dazu Anika Yi. In: https://en-m-wikipedia-org.translate.goog/wiki/Anicka_Yi?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=nui,sc). Man kann sich nach all dem fragen, ob und wann Festo, Yi oder ein anderer Künstler Cyborgs, wie Lovelock sie sich vorstellt, entwickelt.

ham, 30. Oktober 2021

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller