Mit einem Vorwort von Joachim Bauer

Kösel-Verlag München, 2018, ISBN 978-3-466-31093-7, 192 Seiten, Hardcover gebunden,
Format 22 x 14,5 cm, € 18,00 (D) / € 18,5 (A) / CHF 25,50

Fachwissenschaftliche und populäre Erziehungsbücher gibt es mehr als genug. Wer auf diesem Gebiet
publiziert, tut gut daran sich von anderen Publikationen zu unterscheiden. Genau das will auch der in Wien
lebende Facharzt für Psychiatrie, Psychoanalytiker und Psychotherapeut Dr. med. Hans-Otto Thomashoff mit
seiner Publikation über die Vorbildfunktion der Eltern. Für ihn ist sie kein klassischer Erziehungsratgeber,
der sich aus einer Ansammlung gut gemeinter Ratschläge zusammensetzt, sondern eine Anleitung zur
„Erziehung mit Hirn“ (Hans-Otto Thomashoff S.11). Es geht ihm um eine Erziehung, die die Regeln
berücksichtigt, „die für die Arbeit unseres menschlichen Gehirns gelten“ (Hans-Otto Thomashoff a. a. O.).
Wesentlich für den Ansatz der Publikation ist es, dass die Leser vor allem einiges über sich selbst lernen,
über ihr Gehirn, über die Art, wie es aufgebaut ist, funktioniert und welche Konsequenzen sie daraus für ihr
Leben ziehen können. „Und genau die kommen dann ganz von selbst unseren Kindern zugute. Indem wir
unser Verhalten ändern, können wir ihnen mitgeben, was sie für ihr Leben brauchen. Das Angebot des
Buches laut also: Lassen Sie uns, liebe Leserinnen und Leser, gemeinsam in den Spiegel hineinblicken. Ganz
aufrichtig und ungeschminkt und – keine Sorge – auch nicht ohne Augenzwinkern“ (Hans-Otto Thomashoff
S. 16).

Eltern brauchen sich, so Thomashoff in seiner Zusammenfassung, dann keinen Stress mehr zu machen und
können sich entspannt zurücklehnen und die kostbare Zeit mit ihren Kindern genießen, wenn sie ihren
Kindern glaubhaft vorleben, was sie ihnen beibringen wollen. „Denn unsere Kinder sind gut darin zu spüren,
ob wir in unserer Lebensgestaltung ehrlich sind zu uns selbst. Daher der Spiegel. Schauen wir hinein, immer
wieder, und erkennen uns selbst. Um bewusst zu entscheiden, wie wir leben wollen und was wir unseren
Kindern als lebendiges Modell mitgeben wollen. Dort, wo wir ganz zufrieden sind mit uns selbst und mit
unserem Leben […], werden wir in der Erziehung das meiste richtig machen“ (Hans-Otto Thomashoff S.
183).

An erster Stelle steht für ihn die sichere Bindung. „Ein Stück weit geht die Schwangerschaft auch nach der
Geburt noch weiter, ist ein Säugling abhängig von der verlässlichen Präsenz seiner Mutter und von ihrer
körperlichen Nähe. Bekommt er sie, entsteht […] ein stabiles Urvertrauen. Ein Grundgefühl, dass alles gut
wird im Leben, auch wenn es gelegentlich einmal schwierig sein kann […]. Anfangs geschieht das noch
ohne Worte. Beim Säugling formt sich das Bild von sich selbst und von der Welt dadurch, dass er von uns
verstanden wird“ (Hans-Otto Thomashoff S. 184). Auf der Basis einer sicheren Bindung beginnt das Kind,
sich die Welt zu erobern. In dieser Phase werden die Eltern zum lebendigen Gegenüber. Es begreift die Welt,
indem wir sie ihm erklären und ihm zeigen, was seine Erkundungen mit uns machen. „Wieder hilft ein Blick
in den Spiegel. Erlebt unser Säugling, dass er im lebendigen und wechselseitigen Austausch von uns
verstanden wird, lernt er dadurch sich selbst wahrzunehmen und schrittweise sein eigenes Repertoire an
Handlungen aufzubauen.

Je mehr Unabhängigkeit unser Kind gewinnt […], desto empfänglicher wird es auch für Erklärungen und
beginnt es, Worte zu verstehen. Das anfänglich reine Gefühl wird zunehmend vom Verstand ergänzt. Zur
Welt des konkret Erlebten baut sich in der Fantasie die Welt der Vorstellung auf. Nicht nur beim Entdecken
der Außenwelt und ihrer Regeln, sondern auch im Verstehen der eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Je besser
wir uns selbst darin auskennen, desto besser können wir Eltern gute Lehrer sein […]. Über das gemeinsame
Spiegeln teilen wir unweigerlich unsere Gefühle, verstärken wir unsere Freude und mildern unser
Leid“ (Hans-Otto Thomashoff S. 184 f.).

Mit steigendem Stressniveau im Bildungssystem und im Berufsleben wird die Bedeutung der körperlichen
und psychischen Nähe um so wichtiger. Üblicherweise geben wir das weiter, was wir als Kinder selbst erlebt
haben. „Wir neigen dazu, bei unseren Kindern das zu wiederholen, was wir selbst in unserer Kindheit an
Erfahrungen gesammelt haben, weil es als frühe Erfahrung in unserem Unbewussten verankert ist, als
Handlungsmuster in unseren Spiegelneuronen. Deshalb sollten wir Eltern bewusst über unsere eigene
Kindheit nachdenken, was daran gut war und was nicht […]. Eltern sein ist ein Lernprozess. Auch über uns
selbst. Wenn wir offen dafür sind und bleiben. Wer wir sind und wer wir sein wollen, spiegelt sich in dem,
was wir unseren Kindern mitgeben auf ihren Lebensweg. Wir bekommen damit gleich zweifach eine
Chance: unser eigenes Leben zu überdenken […] und die beglückende Erfahrung, es bei unseren Kindern
anders machen zu können“ (Hans-Otto Thomashoff S. 186).

Der von Thomashoff beschriebene Zusammenhang zwischen der Vorbildfunktion der Eltern und der
Erziehung ist schon vielfach so oder so ähnlich beschrieben und bestätigt worden und gehört inzwischen in
den Erziehungswissenschaften zum Allgemeingut. Umstritten bleibt allerdings, ob die Vorbildfunktion der
Eltern auf das System der Spiegelneuronen zurückgeführt werden kann oder nicht. Für Thomashoff gilt der
Zusammenhang als erwiesen.

Spiegelneuronen wurden 1992 erstmals von Giacomo Rizzolatti und seiner Forschergruppe aus Parma
beschrieben. Rizzolatti und seine Mitstreiter hatten beobachtet, dass Nervenzellen von Makaken beim
„Betrachten“ eines Vorgangs dieselben Aktivitätsmuster zeigen wie bei dessen „eigener“ Ausführung
(vergleiche dazu unter anderem https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/1301372 und http://library.mpibberlin.
mpg.de/toc/z2008_2611.pdf). 2002 wurde erwogen, dass die Nervenzellgruppen in der motorischen
Sprachregion des menschlichen Gehirns, die man mit dem Wiedererkennen von Handlungen und Imitationen
in Verbindung bringen kann, auf Spiegelneuronen hindeuten könnten (vergleiche dazu unter anderem https://
www.dasgehirn.info/handeln/motorik/die-bewegungen-der-anderen). Der Freiburger Internist, Psychiater und
Psychosomatiker Joachim Bauer und andere haben in der Folge über die Frage nachgedacht, ob das System
der Spiegelneuronen nicht als neurologisches Korrelat für intuitives Verstehen und Empathie aufgefasst
werden könnte (vergleiche dazu etwa http://doc1.lbfl.li/aab/FLMA140120.pdf). Kritiker dieser Position
weisen darauf hin, dass die besagten Zellen als kleine Minderheit innerhalb eines Verbundes anderer
Nervenzellen arbeiten und dass es bisher nicht möglich war, ihre genau Funktion zu bestimmen. Zudem gab
es, zumindest bis 2015, für keine Spezies Erkenntnisse über mögliche Gefühls-Spiegelneuronen (vergleiche
dazu unter anderem http://www.deutschlandfunkkultur.de/hirnforschung-spiegelneuronen-in-der-kritik.
950.de.html?dram:article_id=312827 und http://www.deutschlandfunkkultur.de/hirnforschungspiegelneuronen-
in-der-kritik.950.de.html?dram:article_id=312827). Insofern bleibt es bis zum Beweis des
Gegenteils offen, ob sich auf neurobiologischer Ebene Korrelate für das Nachahmen, das intuitives Lernen
und die Empathie finden lassen oder nicht.

ham, 5. Mai 2018

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