Herausgegeben von Dieter Buchhart, Elsy Lahner und Klaus Albrecht Schröder. Mit Beiträge von Dieter Buchhart, Roger M. Buergel, Elsy Lahner, Melissa Lumbroso und John Tancock zur gleichnamigen Ausstellung in der Albertina modern, Wien, vom 16. März – 4. September 2022

HIRMER PREMIUM, Hirmer Verlag München / Albertina Wien, 2022, ISBN: 978-3-7774-3866-5, 336 Seiten, 180 Abbildungen in Farbe, gebunden, Buchblock bündig geschnitten, Farbschnitt auf drei Seiten, Format 30 x 24 cm, 45,00 € [D] | 46,30 € [A] | 54,90 SFR [CH]

Drei Jahre nach seiner Retrospektive in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und zwei Jahre nach seiner Autobiografie »1000 Jahre Freud und Leid« hat die Albertina modern die bisher größte Ausstellung von Ai Weiwei in Europa eingerichtet und dazu einen fulminanten, 2,5 Kilogramm schweren Katalog im Marmorlook vorgelegt. Wenn Umschläge schon heute aus Marmor hergestellt werden könnten, hätte Weiwei ganz sicher auf dieses Material statt auf Karton zurückgegriffen (vergleiche dazu ›Marble Doors ⟨Marmortüren⟩ 2007, Marmor, 210 x 80 x 6 cm ⟨im Katalog S. 179 – 183⟩ und https://www.christies.com/en/lot/lot-6060025. Und weiter seine Arbeit ›Marble Sofa, 2011, Marmor, 92 x 89 x 84 cm ⟨im Katalog S. 177⟩; vergleiche dazu https://publicdelivery.org/ai-weiwei-art-in-the-city-sofa-in-white-zuerich-2012/).

Der im Katalog zusammengestellte Überblick über das kaum mehr zu übersehende Werk des heute in Portugal lebenden Künstlers und Menschenrechtsaktivisten setzt mit einer Landschaft ohne Titel von 1985, seiner 1985 und 1986 in New York entstandenen Malerei-Serie zu Mao, seinem in der Auseinandersetzung mit Duchamp entstandenen ›Hanging Man‹, 1985, Drahtkleiderbügel, 38 x 28 cm (Katalog S. 66, vergleiche dazu https://www.toutfait.com/popular-images/ai-weiwei-hanging-man-duchamp-1985/) und seinen ersten surrealen Objekten ein. Es folgen seine New-York- und seine Peking-Fotografien, seine Fotografie ›June 1994‹, s/w Fotografie, 120 x 155 cm (vergleiche dazu https://sinethetamagazine.tumblr.com/post/170344304726), seine LEGO-Arbeit ›Tianan Men‹, 2019, 308 x 231 cm und seine ›Perspektivstudie – Tian’anmen-Platz ‹, 1995, s/w-Fotografie, 89 x 126,5 cm (vergleiche dazu https://www.moma.org/collection/works/117098), die seine Verurteilung des Umgangs der chinesischen Nomenklatura mit dem kulturellen Erbe Chinas auf den Punkt bringt. Der Schwerpunkt liegt bei seinen handwerklich perfekt gearbeiteten Objekten. Der Katalog endet mit seinem Video ›Coronation‹, 2020, zur Coronaplage (vergleiche dazu https://www.albertina.at/albertina-modern/ausstellungen/ai-weiwei/).

Ai Weiwei hatte als Maler begonnen. In seinen frühen Gemälden ging es meist um Landschaften im Stil eines Munch oder eines Cézanne. Nach seiner Werkgruppe der Mao-Bilder gab er das Malen auf und wandte sich der Objektkunst zu. Zu deren Prinzipien gehört das Zusammenbringen des Unvereinbaren, die Metamorphose, die Verwandlung eines Materials in ein anderes, das Prinzip der Zerstückelung und die Freiheit, den Missbrauch von Macht und Gewalt in den Arbeiten öffentlich sichtbar zu machen und anzuprangern. 

Für Roger M. Buergel gehen die im Werk von Weiwei gebündelten Emotionen Trauer und Wut auf die Verluste des modernen China zurück, die aufs Engste mit der Lebensgeschichte Ais verwoben sind (vergleiche dazu und zum folgenden Roger M. Buergel, Dem Leid begegnen, S. 44 ff.). „Wem das zu abstrakt klingt, der betrachte das Triptychon ›Dropping an Han-Dynastie-Urn‹ (vergleiche dazu https://www.guggenheim-bilbao.eus/en/learn/schools/teachers-guides/ai-weiwei-dropping-han-dynasty-urn-1995). Allein auf die Urne und den Akt der Zerstörung zu starren, wird dem Werk nicht gerecht. Es zeigt zugleich das Selbstbild eines beschädigten Menschen“ (Roger M. Buergel a. a. O.), der Aufklärung wie sein Vater als offenen, experimentellen und unabschließbaren Prozess betrachtet. „So erklärt sich der experimentelle Formenreichtum seiner künstlerischen Praxis, ihre genuine Offenheit, gleichgültig, ob er Flüchtlinge auf Lesbos trifft, das Olympia-Stadion in Peking mitentwickelt, 1001 Chinesinnen und Chinesen zurdocumenta 12 nach Kassel expediert (vergleiche dazu etwa https://www.stern.de/kultur/kunst/documenta-12-das-maerchen-von-1001-chinesen-in-kassel-3265682.html), per Blog oder Twitter Ereignisse in China (oder Berlin) kommentiert, Han-Urnen vor der Kamera zerschmettert … oder Millionen von Sonnenblumenkernen aus Porzellan kommissioniert (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Sunflower_Seeds). Ai wuchert mit einem Erbe, das geprägt ist von der Spannung zwischen ikonoklastischer Geste und der Mobilisierung des freien, ja anarchischen Geistes und seiner ganz eigenen gesellschaftlichen Assoziation. 

Ein Film wie Cockroach (Kakerlake, vergleiche dazu https://www.facebook.com/watch/?v=433112437697276) aus dem Jahr 2020, der die jüngsten Studentenproteste in Hongkong 2019 einfängt, entzieht sich dem tieferen Verständnis oder wirkt … wie eine besser Dokumentation, wenn man das gewaltige Epos der chinesischen Studentenproteste  samt ihrer Dilemmata unberücksichtigt lässt [Die Studentenproteste wurzeln in den Protesten vom 4. Mai 1919 auf dem Titan’anmen-Platz gegen den im Friedensvertrag von Versailles Japan zugestandenen Anspruch auf die deutsche Niederlassung in der Provinz Shandong (Klautchou). Diese Proteste gehören zum Gründungsmythos des modernen China. Vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Bewegung_des_vierten_Mai und https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-05/4-mai-bewegung-china-tiananmen-jahrestag-kommunistische-partei-xi-jinping/komplettansicht (ham)]. Es ist eine alte Geschichte, die in Cockroach erzählt wird, wiewohl in neuem Gewandt und mit neuen Mitteln“ (Rainer M. Buergel a. a. O. S46 f.). Die „ersten Minuten des Films … lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Ein junger Mann will sich in die Tiefe stürzen. Er steht auf dem Dach und hält sich an jenem Geländer fest, an dem er ein Transparent befestigt hat. ›Keine Auslieferung‹ lautet die darauf zu lesende Forderung. Sie bezieht sich auf ein nationales Sicherheitsgesetz, das 2020 in Hongkong eingeführt wurde … Die Drohung, vom Dach zu springen, ist eine Performance äußerster Verzweiflung, die der junge Mann zuvor … angekündigt hat. Eine kleine Gruppe … wohnt dem Schauspiel unten auf der Straße bei. Durch Zurufen versuchen sie, den Mann vom Sprung abzuhalten. Feuerwehrleute schleichen sich von hinten an. Tatsächlich bekommen sie ihn noch zu packen, jedenfalls an seiner Jacke, doch das reicht nicht. Er fällt“ (Roger M. Buergel S. 51 f.).

Ai Weiwei feiert am 28. August 2022 seinen 65. Geburtstag. Mit seinem Katalog ›In Search auf Humanity‹ hat er sich schon jetzt ein schönes Geburtstagsgeschenk gemacht.

ham, 10. August 2022

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller