Das deutsche Erbe und die kommende Generation

dtv Verlagsgesellschaft, München 2025, ISBN 978-3i-423-28467-7, 238 Seiten, Format 21 × 12,8 cm, € 20,00

Der 1941 in Ellwangen an der Jagst geborene international renommierte Vertreter der Urteilsforschung, der Antisemitismusforschung und der Nationalsozialismus-Forschung Wolfgang Benz fragt in seinem Buch »Zukunft der Erinnerung. Das deutsche Erbe und die kommende Generation« wie es 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus weitergehen kann, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind und mehr und mehr Zuwanderer ins Land kommen. Er erinnert an die Entstehung, den Wandel und die Institutionalisierung der Erinnerungskultur, die in Gefahr steht, in Ritualisierung, Bürokratisierung und selbstgefälliger Zufriedenheit zu erstarren. Und er weist der jungen Generation einen Weg, die Last des Nationalsozialismus zu tragen, ohne sich erdrücken zu lassen. Denn es ist klar, dass das Verbrechen gigantisch und singulär war. Aber nicht jede politische Pflicht ist damit zu begründen, auch nicht das Erinnerungsverbot an die Nakba. 

Deshalb ist ihm die Auseinandersetzung mit dem Erinnerungsverbot an die Nakba aus Solidarität mit Israel ein eigenes Kapitel wert. 

Nach dem Grundgesetz findet in der Bundesrepublik Deutschland eine Zensur nicht statt. Gleichwohl scheint sich aus Konfliktscheu, kleinlauter Ratlosigkeit, Rechthaberei und Realitätsverweigerung ein anderer Brauch einzubürgern. „Das gilt auch, und neuerdings erst recht, für die Themen Antisemitismus und Israel. Das Wort »Nakba« (Zerstörung, Unglück, Katastrophe) umschreibt die Erfahrung des Heimatverlustes palästinensischer Familien anlässlich der Staatsgründung Israels 1948. Flucht und Vertreibung waren am Ende des Zweiten Weltkriegs auch ein deutsches Thema. Die Erinnerung an die verlorene Heimat in Ostpreußen, Schlesien oder Pommern und anderen Gebieten, in denen Deutsche nicht mehr leben durften, war auch hierzulande ein Problem: in der DDR sollten Sprachregelungen das Erinnern verhindern, in der Bundesrepublik wurde es gefördert, wenn es nicht mit revisionistischen oder revanchistischen Parolen einherging. Integration war von den Besatzungsmächten befohlen und in den beiden deutschen Staaten in erstaunlich kurzer Zeit erreicht.

Den Flüchtlingen und Vertriebenen aus Palästina war ein ärgeres Schicksal beschieden. Der neue Staat Israel gab die Parole aus, die arabische Bevölkerung sei davongelaufen, mithin könne es gar keine Vertreibung gegeben haben. Zur Sprachregelung in der Folge der Potsdamer Konferenz 1945 gehört einst auch die Behauptung Stalins, die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße seien menschenleer gewesen. Der Unterschied für die Menschen besteht darin, dass ein großer Teil der mehr als 700 000 Palästinenser die in der Nakba ihre Heimat verloren, zum Generationen überdauernden Lagerleben verurteilt war. Sie werden als Faustpfand und Drohpotenzial gegen Israel missbraucht, wo ihre Forderung nach Rückkehr zu Recht Furcht und Schrecken verbreitet.

Den besiegten Deutschen war 1945 die Integration der Vertriebenen auferlegt worden, unter gleichzeitigem Verbot aller revanchistischen Bestrebungen und Rückkehrpropaganda. Aber dafür erhielten die Vertriebenen Obdach, Nahrung und Arbeit und wurden in die Gesellschaft der Mehrheit aufgenommen. Den Palästinenser, die durch die Gründung Israels, ihre Heimat verloren, wird Jahrzehnte später immer noch das Minimum, die trauernde Erinnerung an den Verlust, verweigert. Dass die arabischen Nachbarstaaten die Gründung des Judenstaats abgelehnt und ihm stattdessen Krieg angesagt und Vernichtung von der ersten Stunde an angedroht haben, ist unvergessen. Aber der Terror der Hamas ist etwas anderes als das individuelle Leid, das Menschen angetan wurde. Der Überfall am 7. Oktober 2023, die Morde, die Geiselnahmen sind Verbrechen, die mit Abscheu zu verurteilen sind. Der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, die seither die Vergeltung für den Anschlag erleiden muss, gilt aber menschliches Mitleid. Um nicht missverstanden zu werden: Das bedeutet keineswegs Entzug von Solidarität für Israel, das ist keine Verharmlosung der bösartigen Aggression durch die Hamas und kein Verdikt des Selbstverteidigungsrechtes des angegriffenen Staates.

Die Probleme der Nakba sind noch immer virulent. Gibt es Erinnerungsverbote? Ist die Erwähnung des privaten Leids palästinensischer Familien ein sträflicher Akt der Anprangerung Israel? Handelt es sich gar um Antisemitismus, wenn man Empathie für erlittenen Schmerz zeigt, ohne gleichzeitig anzuklagen und Unwiederbringliches einzufordern? An die Nakba zu erinnern, bedeutet, sich in Konfliktzonen zu begeben. Aus unterschiedlichen Gründen ist die Nakba in Israel nicht Bestandteil der Erinnerungspolitik und in Deutschland, wenn nicht völlig unbekannt, denn als vermutete Parteinahme für Palästina und Affront gegen Israel stigmatisiert …

In Tel Aviv musste im Herbst 2022 eine Veranstaltung abgesagt werden, zu der das Goethe– Institut eingeladen hatte, um zwei Sachverständigen aus Israel und Palästina sowie einer Expertin aus Deutschland Gelegenheit zur Diskussion eines fortwährenden gesellschaftlichen und politischen Problems zu geben, das mit der Staatsgründung Israels eng verknüpft ist. Das israelische Außenministerium äußerte »Erschütterung und Abscheu, angesichts der dreisten Trivialisierung des Holocaust und der zynischen und manipulativen Absicht, eine Verbindung herzustellen, deren ganzes Ziel die Diffamierung Israel ist«. Damit gab die Politik den Ton vor, wie die Angelegenheit zu behandeln ist … 

In Deutschland geriet eine Ausstellung über die Nakba, von einer Nichtregierungsorganisation verantwortungsvoll erarbeitet, ins Visier, obrigkeitlichen Argwohns, nachdem sie eineinhalb Jahrzehnte lang gefördert worden war. Im Bericht des Antisemitismusbeauftragten Baden-Württembergs war sie wohl erstmals Thema missbilligender Mutmaßung. Denunziert wurde sie schon lange zuvor von jenen, die mit mehr Leidenschaft als Sachkunde unterwegs sind, um vermeintliches Unheil durch Zensur – nein: durch Unterbinden der Diskussion über das Problem, zu verhindern. Wenn der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, also eine politische Instanz in seinem Bericht 2019 die Nakba-Ausstellung erwähnt, und zwar im Kapitel »israelfeindlichen Antisemitismus stoppen«, dann ist das eine eindeutige politische Aussage. Umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, was der Beauftragte zu beanstanden fand – nämlich die Tatsache, dass die Vertreibung von Juden aus arabischen Ländern nicht erwähnt ist. Die intellektuelle Leistung, die dieses Monitum zum Ausdruck bringt, ist hier nicht zu bewerten. Zu konstatieren ist jedoch, dass der nach Ansicht des Antisemitismusbeauftragten fehlende Hinweis auf die Vertreibung von Juden aus arabischem Territorium den Tatbestand »Antisemitismus« keineswegs erfüllt. Die Erwähnung der Ausstellung in seinem Bericht kommt deshalb einer Denunziation nahe.

Die Nakba-Ausstellung ist notwendig, als Denkanstoß, und sie ist entgegen kleinmütiger Anfeindung seit 2008 mit Erfolg unterwegs … Die Nakba-Ausstellung, konzipiert vom Verein Flüchtlingskinder im Libanon, e. V., gefördert vom Evangelischen Entwicklungsdienst e. V. und der Stiftung Entwicklungs-Zusammenarbeit Baden-Württemberg, wurde begrüßt und gelobt von Wissenschaftlern und Sachkundige wie dem jüdischen Philosophen Ernst Tugendhat. Er könne bezeugen, »dass nicht in einem einzigen Satz dieser Texte auch nur ein Hauch von Antisemitismus zu finden ist. Hingegen stellt die Ausstellung einen mutigen Beitrag dar zur Entkrampfung im Verhältnis der Deutschen zu Israel und damit zu uns Juden überhaupt. Israel ist in der international isolierten Lage, in die es sich verstrickt hat, wirklicher Freunde bedürftig und nicht solcher, die ihm aus Philosemitismus nach dem Munde reden.« Das sagte er 2010 zur Eröffnung der Ausstellungen in Tübingen.

Dann wurde die Ausstellung vom Bannstrahl der Verantwortungsträger des Evangelischen Kirchentags 2023 im vorauseilenden Missionseifer getroffen. Die Organisatoren der Ausstellung durften zwar wie bisher ihren Stand auf dem Markt der Möglichkeiten beim Kirchentag in Nürnberg im Juni 2023 errichten, aber mit der ausdrücklichen Auflage, die Ausstellung nicht zu zeigen.

Zum Kontext der Ausstellung äußerten sich Wissenschaftler und andere Sachverständige. Aleida Assmann plädierte mit guten Argumenten für die Überwindung der einseitig heroischen Geschichtserzählung, die in Israel herrscht, bewehrt mit einem Vergessensgebot, das historische Fakten aus dem gemeinsamen Gedächtnis verbannt. Moshe Zuckermann wünschte, dass in der Nakba-Debatte die Argumente, denen man nicht zustimme, wenigstens zur Kenntnis genommen würden. Denn man könne sie nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass man sie ignoriere oder deren Kenntnisnahme verbiete. Wer Israels Politik heutzutage kritisiere, dürfte sich nicht nur als Parteigänger der Palästinenser begreifen, sondern auch als »besorgter Sachwalter wirklicher israelischer Interessen«.

Solche Überlegungen lagen den Verantwortlichen des Kirchentags fern. Sie hätten sich aber an das Diktum eines prominenten frommen Christen erinnern können, der einst unter großem Beifall den zu einer internationalen Konferenz über Antisemitismus im auswärtigen Amt in Berlin versammelten Politikern und Diplomaten aus aller Welt erklärt hatte, es sei doch gerade Freundespflicht, Israel auf politische Fehler aufmerksam zu machen. Es war Johannes Rau, der als deutscher Bundespräsident so sprach“ (Wolfgang Benz, S. 127 ff.).

In seinem Schlusskapitel kommt Benz noch einmal auf den terroristischen Überfall der Hamas auf Israel im Oktober 2023 zurück, der nach seiner Auffassung die Gesellschaft auch die Freunde Israels gespalten hat in bedingungslose Feinde aller Palästinenser und ebenso bedingungslose Unterstützer einer militärischen Vergeltung, die für die Zivilbevölkerung des Gazastreifens zur Katastrophe wurde. „Die Erinnerung an den Holocaust wird von Anhängern einer Politik der Stärke beschworen. Sie ist aber ebenso ein Argument für die Notwendigkeit des friedlichen Nebeneinanders von Juden und Arabern in zwei benachbarten Staaten.

Islamkritik, wie sie auch von jüdischer Seite (aus nachvollziehbaren Gründen angesichts der Bedrohung Israels und offensiv gelebter Judenfeindschaft mancher Muslime) vehement vorgetragen wird, hat kein historisches Gedächtnis und kein Problembewusstsein für die Austauschbarkeit der Stigmatisierung von Gruppen. Fixiert auf ihr Feindbild wüten Populisten gegen differenzierende Betrachtungsweisen und verteidigen ihre manichäische Weltsicht. Dass Islamfeindschaft, die Hass gegen eine fremde Kultur predigt und Intoleranz proklamiert, an Traditionen der Feindseligkeit gegen Menschen wie den Antisemitismus oder dem Antiziganismus zu messen ist, steht wissenschaftlich außer Frage.

Wer dies thematisiert, etwa auf Parallelen zu Agitation des organisierten Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert verweist, mit der gegen die Emanzipation der Juden in Deutschland gekämpft wurde, muss freilich damit rechnen, mit Krawall überzogen zu werden, weil er vermeintlich Judenfeindschaft mit Hass gegen Muslime gleichsetzt. Worum es wirklich geht, bleibt außer Acht: Es geht um Toleranz und Menschenrechte für alle in der demokratischen Gesellschaft, es geht um das Bemühen, Diskriminierung von Gruppen zu verstehen und einen Beitrag zu leisten, um religiöse, rassistische, soziale Ausgrenzung zu verhindern. Es geht vor allem darum, aus der Geschichte der Judenfeindschaft zu lernen. Alle Anstrengungen, den Holocaust zu erforschen und zu verstehen, alles Gedenken, um die Erfahrung der Katastrophe des Judenmords für die Entwicklung einer demokratischen, humanen und toleranten Gesellschaft zu nutzen, ist vergeblich, wenn anstelle der Juden oder zusammen mit den Juden andere Gruppen stigmatisiert werden. Was der Judenmord uns lehrt, ist das Gebot der Toleranz, die Achtung vor anderen und der Respekt von Menschenwürde und Menschenrecht. Das ist unteilbar und gilt für alle. Solange diese Erkenntnis nicht verinnerlicht ist und als alltägliche Praxis geübt wird, bleibt die Erinnerungskultur mit ihren Gedenktagen und Gedenkstätten, mit Stolpersteinen und Mahnmalen, mit Predigten und Beteuerungen routiniertes Ritual und selbstgefällige Geschäftigkeit“ (Wolfgang Benz, Seite 220 ff.).

ham, 5. August 2025

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