Warum Hannah Arendt uns Zuversicht in schwieriger Zeit gibt
Patmos Verlag, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 2025, ISBN 978-3- 8436-1603-4, 160 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22,5 × 14,5 cm, € 20,00
Von dem 1948 in Spaichingen geborenen überzeugten Katholiken Winfried Kretschmann ist bekannt, dass er eine Zeit lang Priester werden wollte, aber davon Abstand nahm, weil er in seiner Internatszeit mit den als Lehrern tätigen Patres schlechte Erfahrungen gemacht hatte: Sie verteilten Ohrfeigen und Stockschläge, auch auf den Kopf (vergleiche dazu Winfried Kretschmann in https://de.wikipedia.org/wiki/Winfried_Kretschmann). Anders als Württemberger evangelischen Theologen aus seiner Generation hat ihm seine studentische Nähe zum Maoismus kein Berufsverbot aufgrund des Radikalenerlasses eingebracht. 2011 wurde er zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg gewählt. Er zählt heute zu den prominentesten Vertretern des pragmatischen und öko- konservativen Flügels der Grünen. Das dunkelgrüne Cover seiner Publikation und ihr gleichfarbiges Lesebändchen greifen diese Einschätzung in kluger Weise auf.
In seiner Einleitung schafft Kretschmann Klarheit und spricht davon, dass er sich in den 1970er-Jahren in einer Art Sekte aufgehalten hat: „Ich war damals Student an der Universität Hohenheim und hatte mich tief in ein linksradikales Weltbild verirrt. Anfangs hatte mich das Freiheitliche der Achtundsechziger-Bewegung angezogen. Es war eine faszinierende Gegenwelt zum autoritären katholischen Internat in Oberschwaben, aus dem ich kam. Doch dann driftet die Bewegung mehr und mehr ins Sektenhafte, ja Totalitäre ab. Der Kommunistische Bund Westdeutschland, bei dem ich damals mitmachte, war eine strenge Kaderorganisation. Da musste man den Blick auf die Welt, wie sie wirklich ist, weitgehend ausschalten. Mein Denken wurde immer enger. Irgendwann stand ich dann im Regen vor den Werkstoren eines Unternehmens in Esslingen und versuchte, den Arbeitern die »Kommunistische Volkszeitung« in die Hand zu drücken – aber niemand nahm sie. Ich war angetrieben von einem übersteigerten Gerechtigkeitsgefühl und überzeugt: »Wenn du nicht alles für die Gerechtigkeit auf der Welt tust, dann tust du zu wenig.«
Ich kann mir bis heute nicht so recht erklären, wie ich so tief in diese linksradikale Abseitigkeit geraten konnte. Aber eines weiß ich genau: Die Bücher von Hannah Arendt haben mir geholfen, aus dem totalitären Denken und der ganzen damit verbundenen Gewaltmystik herauszukommen. Sie war mein Heilmittel gegen die ideologische Verblendung, die in mir einen gewaltigen Sog entwickelt hatte. Am meisten faszinierten mich die radikale Freiheit und Unabhängigkeit in Arendts Denken und Urteilen. Das war das genaue Gegenteil des Doktrinären, das ich erlebt hatte. Es hat mir die Augen und vor allem das Denken geöffnet. Und das war im wahrsten Sinne des Wortes befreiend“ (Winfried Kretschmann, Seite 7; vergleiche dazu auch ⟩Kretschmann über seine Zeit als Maoist: »Man kann froh sein, wenn man da rausgefunden hat«⟨. In: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruenen-ministerpraesident-winfried-kretschmann-erklaert-zeit-als-maoist-a-c8cefc3b-36f6-4b3c-a345-6ef2cb475287).
Kretschmann erzählt dann in seiner Publikation, wie Arendts Politikverständnis seine Sicht auf die Welt verändert hat und seither sein politisches Handeln prägt. „Hannah Arendt war damals bei weitem noch nicht die Ikone der politischen Philosophie, die sie heute ist … Zu Lebzeiten war Hannah Arendt nicht nur eine streitbare, sondern auch eine höchst umstrittene Denkerin, die in der politischen Philosophie nur zögerlich rezipiert wurde. Das lag auch an ihrer Eigenwilligkeit und Kühnheit: Arendt entwickelte keine systematische politische Theorie im herkömmlichen Sinn, sondern eine politische Handlungstheorie, die quer im Stall der politischen Philosophie stand. Sie scherte sich wenig um die Konventionen der Ideengeschichte und verknüpfte verschiedene Denktraditionen auf ihre eigene originelle Weise. So baute sie ihre Neuerzählung des Politischen auf solch unterschiedlichen Autoren wie Aristoteles und Machiavelli, Platon und Kant auf. Hannah Arendt verabscheute alle »Ismen«, und ihr Werk sperrt sich dagegen, in klassische ideologische Schubladen von links oder rechts, liberal oder konservativ, einsortiert zu werden“ (Winfried Kretschmann, Seite 8 f.).
Die streitbare deutsch-amerikanische Denkerin gilt heute als moderne Klassikerin der politischen Philosophie. Mutig, leidenschaftlich und unkonventionell plädiert sie für ein Miteinander der Verschiedenen, die gemeinsam ihre Welt gestalten. Ihr Credo: Der Sinn von Politik ist Freiheit. Damit ist Arendt Vordenkerin einer aktiven Bürgergesellschaft, in der gilt: Politik ist Sache von uns allen.
Ausgangspunkt von Arendts Zuversicht in schwierigen Zeiten ist ihre Vorstellung von Natalität, von Geburtlichkeit: „Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratoriem ›die frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren‹“ (Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München / Zürich 2019, Seite 317; Winfried Kretschmann, S. 128).
Die individuelle Fähigkeit zum Neuanfang und die schöpferische Kreativität entfaltet ihre volle Kraft aber erst im Miteinander. Damit aus einem Funken ein Feuer wird, braucht es eben nicht nur den einen Mutigen, der etwas in Bewegung setzt, sondern es braucht auch die Zweiten, Dritten und Vierten, die ihn unterstützen. Erst im gemeinsamen Handeln kommt die gewaltige Kraft einer Idee zum Tragen. Deshalb schlägt Kretschmann einen Pakt für einen funktionierenden öffentlichen Raum vor, der das Nervensystem unserer Demokratie ist. Wie Arendt geht Kretschmann davon aus, dass der Mensch seine Erfüllung nicht findet, wenn er nur seinem privaten Glück im Kleinen hinterherjagt und seinen individuellen Nutzen maximiert. Dafür braucht er auch das öffentliche Glück, das sich im »acting in concert« einstellt – wenn wir zusammen mit anderen etwas gestalten, was nicht nur einen selbst betrifft, sondern eine größere Gemeinschaft.
Dieses Gestalten für eine größere Gemeinschaft steht mit Jeanne Hersch, der anderen großen jüdischen Denkerin, auf die sich Kretschmann bezieht, jetzt an. Wir leben zwar in keiner einfachen Zeit, aber es ist unsere Zeit. „Und wir sind dem Sturm der Veränderungen nicht machtlos ausgesetzt. So betont Jeanne Hersch, dass unsere »einzige tätige Verabredung mit der Wirklichkeit, mit der Welt, wie sie ist, im Jetzt liegt – im Jetzt, wo die Welt so ist, wie sie eben ist«. Deshalb liegt es in unseren Händen, was wir daraus machen: ob wir jammern, verzagen und um uns selbst kreisen. Oder ob wir anpacken, mutig sind und das Ganze in den Blick nehmen“ (Winfried Kretschmann, S. 131). Im Ergebnis geht es also um den Mut, als Bürger zu handeln. Ansonsten verpasst man eine grundlegende Dimension des Menschseins.
„Dabei ist nicht entscheidend, ob wir uns in einer Partei oder einem Verein, in einer Bürger-initiative oder einer Stiftung, in der Nachbarschaftshilfe oder in der Kirchengemeinde einbringen. Denn wenn wir etwas für das Ganze tun, dann tun wir zugleich auch etwas für uns selbst. Solches Aktivbürgertum gibt uns etwas, was uns keine Fernreise, kein Wellnessprogramm und keine Netflix – Serie geben kann: Sinn. Und die tiefe innere Freude, die sich einstellt, wenn wir uns einbringen und etwas bewirken, wenn wir uns als Teil eines größeren »Wir« erleben und unsere Welt mitgestalten – nämlich: öffentliches Glück“ (Winfried Kretschmann, Seite 135).
ham, 11. November 2025