Verlag C.H.Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-74825-7, 302 Seiten, 27 überwiegend farbige Abbildungen, 3 Karten und 3 Tabellen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,3 cm,
€ 26,00 (D) / € 26,80 (A)
Für den zuletzt in Bamberg lehrenden emeritierten Kulturgeografen Werner Bätzing ist das Landleben die Grundlage der Sesshaftigkeit und unseres gesamten heutigen Lebens. Ohne das Landleben hätten weder Städte noch Hochkulturen entstehen können. Land und Stadt haben gemeinsam die außerordentlichen Innovationen des Mittelalters hervorgebracht. Mit der industriellen Revolution und dem „Ende der Fläche“ bildeten sich erstmals Strukturen heraus, die das Landleben grundsätzlich wirtschaftlich und gesellschaftlich entwertet haben. Aber es dauerte noch bis zum Beginn der 1960er Jahre, bis diese das Land direkt und in der Fläche erreichten und es durch eine auf Monokulturen, höchste Erträge und Großmaschinen setzende industrialisierte Landwirtschaft, die Politik des Neoliberalismus und den Umbau zum Teillebensraum und zur Zwischenstadt fundamental veränderten. Deshalb fragt sich Bätzing, ob das Landleben unter den heutigen Rahmenbedingungen noch wirtschaftlich tragfähig, kulturell bereichernd, sozial vielfältig sein und eine qualitativ gute Versorgung und eine vielfältige und gesunde Umwelt garantieren kann. Unter ländlichen Räumen versteht er mit der OECD naturnahe, von der Land- und Forstwirtschaft geprägte Landschaftsräume mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte. Die städtischen Räume und die Speckgürtel um die großen Städte herum sind aufgrund ihrer hohen Bevölkerungsdichte und ihrer städtischen Prägung aus dem ländlichen Raum ausgeschlossen.
Bätzing weiß zwar, dass es sinnvoll ist, zwischen ländlichen Räumen in der Nähe von Agglome-rationsräumen, touristisch attraktiven ländlichen Räumen, Räumen mit günstigen Produktionsbedingungen für die Landwirtschaft, gering verdichteten ländlichen Räume mit wirtschaftlicher Entwicklungsdynamik und strukturschwachen ländliche Räumen zu unterscheiden. Aber er spricht in seiner Publikation trotzdem vom ländlichen Raum im Singular, weil er der Meinung ist, dass zwischen den städtischen und ländlichen Räumen nach wie vor fundamentale Unterschiede bestehen und Stadt und Land für zwei komplementäre Lebensweisen stehen, die nur gemeinsam ein gutes Leben ermöglichen. Das traditionelle Landleben ist dadurch geprägt, dass Leben und Arbeiten eine Einheit bilden. Eine räumliche Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freiheit ist dort gar nicht vorstellbar. Aufgrund der Kleinheit der Siedlungen und Dörfer kennt jeder jeden und die gesamte Kommunikation beruht auf persönlichen Kontakten. Die Stadt ist zeitlich und mental weit entfernt. Jedes Dorf bildet eine kleine, eigenständige Einheit, hat spezifische Eigenheiten und grenzt sich von den umliegenden Nachbardörfern ab.
Dies ändert sich mit Beginn der 1960er Jahre durch die Motorisierung der Massen, das Arbeiten in den Städten, die weit ausgreifende Massenkommunikation und das Fernsehen, den Aufbau der Neubaugebiete an den Dorfrändern und das Ausbluten der Dorfkerne. Am Ende all dieser Prozesse ist der Dorfkern so gut wie tot. Das Dorf lebt jetzt in erster Linie in den Neubaugebieten und das dortige Leben ähnelt immer mehr einem Leben am Rande einer Stadt als dem traditionellen Dorfleben, in dem jeder auf die Hilfe der anderen angewiesen ist. „Deshalb ist es kein Wunder, dass in dieser Zeit die herkömmlichen Lebensformen und Traditionen auf dem Land allmählich zusammenbrechen. Die junge und mittlere Generation hat daran kein Interesse mehr, und die alten Menschen, die sie noch fortführen, werden immer weniger. Viele Bräuche und Festveranstaltungen, die an bestimmte Jahreszeiten gebunden waren, werden eingestellt, zahlreiche traditionelle Strukturen und Lebensformen verschwinden einfach, und ein Landleben, das nicht modern-funktional geprägt ist, scheint keinerlei Zukunft mehr zu besitzen. Der tiefste Punkt ist Ende der 1970er Jahre erreicht: Damals sieht es so aus, als ob das endgültige Verschwinden der letzten ländlich traditionellen Lebensformen nur noch eine Angelegenheit weniger Jahre sei“ (Werner Bätzing S. 153).
Bis in die 1950er Jahre steht das Landleben den mittelalterlichen Lebensverhältnissen noch sehr viel näher als den heutigen. Die grundsätzliche Entwertung des Landlebens setzt dann mit dem Übergang der Industrie- und die Dienstleistungsgesellschaft ein und ist mit der Postmoderne schon wieder infrage gestellt: Am Beginn der 1980er Jahre wird in vielen Dörfern der verfallene Backofen wieder hergerichtet und man veranstaltet Backofenfeste. Die Kirchweih-Tradition wird wieder aufgenommen. Immer mehr Menschen ziehen von der Stadt aufs Land, weil sie die Qualität des Landlebens schätzen. Jugendliche bleiben nach ihrem Schulabschluss bewusst im Dorf. Und Neubauten orientieren sich wieder am überkommenen Dorfbild. Bier von Dorfbrauereien wird dem der Großbrauereien vorgezogen und alte Landwirtschaftsprodukte können jetzt als Spezialitäten vermarktet werden. Damit stellt sich die Frage, ob der sich vom städtischen unterscheidende ländliche Raum und das Landleben trotz erheblicher Entwertungen nach den 1980er Jahren weiterhin als dezentraler Lebens- und Wirtschaftsraum existieren. Bätzing geht in der Auswertung seiner Untersuchung davon aus, dass der ländliche Raum und das Landleben zwar deutlich geschwächt und entwertet wurden, aber beide weiterhin existieren und ihr Verschwinden keineswegs kurz bevorsteht.
Folgende Merkmale prägen nach seiner Bewertung das heutige Landleben:
„– Bevölkerung: Deutlich geringere Bevölkerungsdichte, höherer Altersdurchschnitt und geringerer Ausländeranteil als in städtischen Regionen.
– Siedlungen: Viele kleine Siedlungen, die relativ weit voneinander entfernt liegen; Zwischenstadt-Strukturen nur schwach und inselförmig.
– Wirtschaft: Charakter als dezentraler Wirtschaftsraum trotz Schwächung noch erhalten; ländliches Wirtschaften sehr viel weniger spezialisiert als städtisches Wirtschaften.
– Gesellschaft: Lebensstilgruppen dominant, aber deutliche Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Lebensstilgruppen.
– Umwelt: Sehr deutlicher Unterschied zu städtischen Regionen durch relativ kleine Siedlungsflächen und sehr große Landwirtschafts- und Waldflächen; Bedeutung der Landschaft als ›Heimat‹ noch erhalten, aber erheblich geschwächt.“ (Werner Bätzing S. 215 f.)
Wird nun das Landleben durch die neueren Entwicklungen ab den 1980ern auf- oder abgewertet?
Bätzing sieht zwar, dass der Staat im Unterschied zur vorausliegenden Periode nicht mehr direkt zu ungunsten des Landes und zugunsten der Stadt politisch interveniert, aber die Entwertung des Landes setzt sich durch die mit der Globalisierung einhergehenden Sachzwänge fort. Trotz alledem ist es zu einer Aufwertung vieler Traditionen, einem positiven Verständnis von Regionalität und einem neuen Umweltbewusstsein gekommen. Aber es könnte möglich sein, dass diese Aufwertung nur fingiert und damit doppelt infrage gestellt ist: „Weil das Landleben quer zu den Strukturen und Sachzwängen unserer hochspezialisierten Welt steht, wird es im Normalfall als eine überholte und unzeitgemäße Lebens- und Wirtschaftsform nicht wirklich ernst genommen und durch ökonomische, kulturelle und politische Sachzwänge immer stärker an den Rand gedrängt und in seiner Existenz bedroht. Im Sonderfall jedoch, in Situationen, in denen auf einmal die Fragilität und Bodenlosigkeit unserer modernen Welt aufbricht, steht das Landleben der Gefahr, als ganzheitliches Gegenmodell zur hochspezialisierten und globalisierten Welt so stark überbewertet, besser gesagt verklärt zu werden, dass es gar nicht mehr auf eine reale, sondern nur noch auf eine fingierte Weise, nämlich als Idyll gelebt werden kann. Die Menschen, die sich heute für das Landleben engagieren, müssen beide Gefahren sehr genau kennen und berücksichtigen, um es auf eine angemessene Weise aufwerten zu können“ (Werner Bätzing S. 218).
Im Ergebnis kommt Bätzing zu der Auffassung, dass Land und Stadt so eng aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig so stark beeinflussen, dass ihre Beziehung nicht als Gegensatzpaar, sondern als ein spezifisches Aufeinanderbezogensein verstanden werden muss. Land- und Stadtleben unterscheiden sich durch größere bzw. geringere Naturnähe, durch geringfügiger bzw. stärker ausgeprägte Arbeitsteilungen sowie durch eine größere bzw. geringere soziale Nähe. „Die Grundsatzfrage lautet jetzt: Brauchen wir in unserer heutigen Welt, die in allen Bereichen durch extreme hohe Funktionsteilungen und Spezialisierungen geprägt ist, überhaupt noch ein in relativ geringem Maße ausdifferenzierten Landleben? Oder ist dies nur noch ein nostalgisches Relikt der Vergangenheit, das heute eigentlich überflüssig geworden ist? Ich bin der Meinung, dass es in allen drei Bereichen [also in der Umwelt, der Wirtschaft und der Gesellschaft] gute Argumente dafür gibt, dass das Landleben unverzichtbar ist … Würde das Landleben heute vollständig verschwinden und das Leben in den Metropolen als einzige Lebensform übrig bleiben, dann würde diese Lebensform völlig selbstverständlich und alternativlos werden. Dadurch würde die Gefahr sehr groß werden, dass man sich Umweltbezüge lediglich als technische Herausforderungen, Wirtschaftsprozesse nur noch als extrem arbeitsteilige, ort- und bodenlose Tätigkeiten und menschliches Leben nur noch in Form solitärer und hochspezialisierter Individualitäten vorstellen könnte und dass die gesamte Welt in atomisierte Einzelteile zerfiele, die permanent weiter optimiert würden. Eine solche Welt würde ihre Menschlichkeit verlieren, und sie wäre zugleich eine extrem fragile Welt, die in Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft zahlreiche selbstzerstörerische Kräfte freisetzen würde“ (Werner Bätzing S. 221 ff.).
Um diese Selbstzerstörung zu verhindern, benötigen wir nach Bätzing dringend die Erfahrungen des Landlebens in den Bereichen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft, weil das Landleben die Erinnerung daran wachhält, dass menschliches Leben und Wirtschaften sehr viele Voraussetzungen besitzt, die sonst leicht aus dem Blick geraten. Hinter dieser Leitidee steht seine Überzeugung, dass sich Stadt und Land komplementär ergänzen müssen, damit sich das Fortschrittsdenken nicht verselbständigt und der ökologische, kulturelle und ökonomische Boden, der letztlich alles ermöglicht, nicht verloren geht. Wenn diese Zusammenhänge übersehen werden, zerstören wir uns auf Dauer selbst.
ham, 18. Juli 2023