Gintarė Sokelytė und Sonja Yakovleva fragen im Frankfurter Kunstverein bis zum 4. August, welcher Macht Körper ausgesetzt sind und was sie in der Öffentlichkeit bewirken können
Zum Selbstverständnis des Kunstvereins gehört es, Frankfurter Nachwuchskünstlerinnen eine Bühne für ihren Start in der internationalen Kunstszene zu bieten. Derzeit hat er die 1986 in Kédainniai, Litauen, geborene Städel-Absolventin Gintarė Sokelytė und die 1989 in Potsdam geborene Absolventin der Hochschule für Gestaltung Offenbach und der Hochschule für Bildende Künste Athen Sonja Yakovleva zu ihren bisher größten Einzelausstellungen eingeladen. Entstanden sind aufwändige Neuproduktionen und beeindruckende Werkgruppen.
Auf dem Zwischenstock nach dem Treppenaufgang stößt man auf Sonja Yakovlevas rot hinterlegten Scherenschnitt ›Pink sexy gym boot camp‹ einer ihren Körper stählenden Frau und ihr männliches Gegenüber mit Hanteln und Reifen auf grünem Hintergrund ›Gym Bro‹ beim Workout. Im dritten Stock hat sie die 240 Deckenleuchten mit Scherenschnitten aus der Welt der Fitnessstudios überformt, in denen aktuell 11 Millionen Menschen an diversen Trainingsgeräten ihre Körper gegenwärtigen Schönheitsidealen anpassen und der Branche Umsätze in Höhe von über 5,44 Milliarden Euro im Jahr bescheren (vergleiche dazu die Deckeninstallation ›Instarexie‹, 2024, 240 Papierschnitte, Fotokarton, Farbfolie, je 68 x 68 cm und https://www.fkv.de/ausstellung/sonja-yakovleva/). Robert Gugutzer hat diesen Trend schon 2007 als Körperkult und Schönheitswahn beschrieben und den Körperkult als eine Art Diesseitsreligion bezeichnet, die an die Stelle der institutionalisierten Religion getreten ist. „Zentraler Glaubensinhalt dieser Diesseitsreligion ist der Körper als sinnstiftende Instanz. Der Glaubensbezug ist statt auf eine transzendente Welt auf ›lebensweltliche Immanenz‹ (Melanie Knijff) gerichtet, also auf Erlösung im Diesseits. Glaubensvermittler sind Körperexperten wie Fitnesstrainer, Ernährungsberater oder Schönheitschirurgen. Die zentralen Glaubenssymbole verkörpern beispielsweise der Waschbrettbauch, ›90 – 60 – 90‹ oder ›size zero‹ -Jeans. Die Glaubensgemeinschaft trifft sich in postmodernen Soziotopen wie dem Fitnessstudio oder der Wellnessfarm. Glaubensrituale äußern sich in festen Trainingstagen, -zeiten und -abläufen. Die Bibel dieser Körperreligion sind Zeitschriften wie Fit for Fun, Men’s Health oder Body Shape. Und auch eine Todsünde findet sich in dieser Körperreligion, nämlich dick zu sein“ (Robert Gugutzer, Körperkult und Schönheitswahn – Wider den Zeitgeist – Essay. In: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30500/koerperkult-und-schoenheitswahn/ ). Die Grenze der Selbstoptimierung ist beim Po erreicht: Er lässt sich auch durch intensivstes Training nicht auf die angestrebte Form bringen. Hier hilft nur der Gang in die plastische Chirurgie, die Entfernung der überschüssigen Haut nach der Gewichtsreduktion und die Po-Vergrößerung mit Eigenfett (Vergleiche dazu etwa https://www.drheitland.com/aktuelles/diese-moeglichkeiten-bieten-schonende-po-korrekturen). Die Kosten der Po-Korrekturen liegen je nach Aufwand zwischen 3500 und 9500 Euro (vergleiche dazu etwa https://www.mybody.de/po-straffung.html).
Immanuel Kant hat die Einübung ins Selbstdenken als entscheidenden Schritt auf dem Weg in die Autonomie moderner Subjekte verstanden (vergleiche dazu und zum Folgenden: Ingolf Udo Dalferth, Alle nur „Copien von anderen“? In: Sebastian Kleinschmidt, Friedemann Richert, Thomas A. Seidel (Hrsg.). Bild der Welt und Geist der Zeit, Leipzig, 2024, S. 179 f. und dort auch die Anmerkung 13). Man könnte sich nun im Kant-Jahr vorstellen, dass die Selbstvervollkommnung des Körpers eine Ausdehnung dieser Selbstbestimmung ist. Wer aber die Selbstverfügung auf den eigenen Körper ausdehnt, missversteht Kant. Was als Ausdruck autonomer Selbstbestimmung verstanden werden könnte, ist in Wirklichkeit die Fortsetzung der Vergegenständlichung, Objektivierung und Instrumentalisierung der Natur am Ort des Menschen.
In Yakovlevas 10,65 x 2,71 m großen bemalten Papierschnitt ›State of Strike‹, 2024 ist die Stadt zum Körper geworden, dessen vitale Funktionen ohne den körperlichen Einsatz im Onlineversandhandel, der Fleischindustrie, Lieferdienste, Kitas, Krankenhäuser, Baustellen, Gebäudereinigung und Gastronomie zusammenbrechen würden. In diesem Schnitt zitiert Yakovleva Formen der Agitprop der 1920er Jahre in Sowjetrussland, der Wandgemälde von Diego Rivera und der Streetart. Sie collagiert, verdichtet verschiedene Szenen und nutzt die geometrischen Formen und die Signalwirkung der Farben Schwarz, Weiß und Rot. Ihre Streikaufrufe lassen die prekär beschäftigten Arbeiter auf den Straßen der Stadt zu widerständigen Körpern und politischen Faktoren werden, die Veränderungen bewirken.
Hinter dem Aufzug im vierten Stock öffnet sich in Gintarė Sokelytės Parallelwelt der Eingang zum Nachbild der vorzeitlichen Blombos-Höhle in Südafrika, in der man neben 75 000 Jahre alten beidseitig bearbeiteten Pfeilspitzen, mit Rötel eingefärbten Schneckenhäusern, einen wohl 73 000 Jahre alten Silikat-Stein entdeckt, der mit mehreren parallelen ockerfarbigen Linien bemalt ist, die sich kreuzen (vergleiche dazu https://www.nzz.ch/wissenschaft/die-aelteste-zeichnung-sieht-aus-wie-ein-hashtag-ld.1419536) und zwei jeweils 53 und 76 Millimeter lange Ockerstückchen gefunden hat, auf der sich X-förmige Gravuren befinden (vergleiche dazu https://www.spektrum.de/news/x-foermige-kunst/585583). Letzter sollen 77 000 Jahre alt sein. Diese Funde und in Stein gearbeitete prähistorische Felsbilder (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Petroglyphe und https://de.freepik.com/vektoren-premium/hoehlenmalerei-praehistorische-felskunst-handgezeichnet-skizzenstil-vektorillustrationsset_75723207.htm) haben Sokelytė zur Schaffung einer an ein Kreuz erinnernde Metallskulptur in der Größe eines menschlichen Körpers inspiriert, an die sie fünf Freiwillige an Armen und Beinen nackt festgebunden und in ihrer Muttersprache befragt hat. Die Antworten sind jetzt in fünf in einen Dodekaeder eingebrachten Filmen zu hören, der mit Textkopien aus fast zweihundert internationalen Staatsverfassungen und an die vierzig Gesetzessammlungen ausgekleidet ist. In ihrer Rauminstallation ✭(Asterisk), 2023-24 trifft Innerstes auf äußere Ordnung und Form.
In Sokelytės zweiter Rauminstallation ›A-Type Complex‹ stehen sich eine Iglu-artige Halbkugel mit ausgebranntem Maschinenöl bemalten menschlichen Figuren und die fünf Meter lange Wandskulptur ›25‹ gegenüber, auf der man einen Zug von Menschen in eine Stadt und eine durch menschliches Handeln zerstörte Landschaft erkennen kann. Die Wandskulptur ist wie die Figuren im Iglu mit verbranntem Motoröl geschwärzt und aus Fundstücken aus der Stadt aufgebaut. Sokelytės Installation könnten fragen, ob sich im Anthropozän Aufbau und Zerstörung die Waage halten und ob es noch ein Darüber hinaus und etwas wie Hoffnung gibt.
ham, 6. Mai 2024