Als im Sommer 2015 Regionalzüge aus Kufstein und Rosenheim voller Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak und den Balkanstaaten ankamen, wurden sie von Einheimischen empfangen, die Wasser bereithielten, Essen, Kleidung und Kuscheltiere und die Schilder in die Höhe hielten: »Refugees welcome« – Geflüchtete, willkommen (vergleiche dazu Matthias Dobrinski „Einigermaßen geschafft“.  Publik-Forum 15/2025, vom 7.8.2025). Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese Stimmung auf der Bundespressekonferenz am 31. August 2015 in ihrem Ausspruch  „Wir schaffen das!“ auf den Punkt gebracht und den Satz mehrmals wiederholt (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Wir_schaffen_das und die Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2016 vor dem Deutschen Bundestag am 25. November 2015 in Berlin: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-452842).

Der Migrationsforscher Jochen Oltmer (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jochen_Oltmer) hat die Hintergründe dieser Willkommenskultur in seiner Studie »Globale Migration. Geschichte und Gegenwart« (Verlag C.H. Beck, München 2012, 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2016, ISBN 978-3-406-69890-3) so zusammengefasst: „Zwischen 1990 und 1994 lagen die Flüchtlingszahlen zwischen dem Höchststand von 20,5 Millionen 1992 und 18,7 Millionen 1994. Ähnlich hohe Werte wurden Mitte der 2010er Jahre wieder erreicht: 19,5 Millionen 2014 und 20,2 Millionen Mitte 2015. Zwischen diesen beiden Hochphasen lagen die Flüchtlingszahlen niedriger und erreichten im Zeitraum 1997–2012 einen Höchstwert von 15,9 Millionen 2007 und die niedrigste Zahl mit 13,5 Millionen 2004. Wesentlich stärker als die Zahl der Flüchtlinge veränderte sich die Zahl der ›Binnenvertriebenen‹. Weil diese Kategorie keine Staatsgrenzen überschreitet, fällt sie nicht in den Regelungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention und auch nicht in das Mandat des UNHCR. Deshalb sind die UN-Angaben über die Zahl der Binnenvertriebenen noch deutlich unsicherer als über die Zahl der Schutzsuchenden, die Grenzen überschritten haben. Auch bei den ›Binnen-

vertriebenen‹ lässt sich ein Schwerpunkt Anfang der 1990er Jahre ausmachen, 1994 zählte der UNHCR 28 Millionen. Während die Zahl der Flüchtlinge seit Anfang der 2000er Jahre allerdings ein Tief erreichte, steigt jene der ›Binnenvertriebenen‹ seither mehr oder minder kontinuierlich an, von 21,2 Millionen im Jahr 2000 bis auf 38,2 Millionen  2014.

Obgleich in den vergangenen Jahren die Zahl der Flüchtlinge im Vergleich zur Zahl der ›Binnenvertriebenen‹ nicht übermäßig stark angestiegen ist, lässt sich beobachten, dass Europa und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland seit 2011 deutlich vermehrt zum Ziel von globalen Fluchtbewegungen geworden sind. Vor allem stellt sich die Frage, warum 2015 weitaus mehr Flüchtlinge in die Bundesrepublik kamen als in den Jahren zuvor. Sechs Elemente eines komplexen Zusammenhangs seien hier skizziert. Die Reihenfolge der Argumente repräsentiert keine Hierarchie, alle genannten Faktoren stehen in einem unmittelbaren Wechselverhältnis zueinander:

  1. Finanzielle Mittel: Unzählige Studien belegen, dass Armut die Bewegungsfähigkeit massiv einschränkt, ein Großteil der Menschheit kann sich eine Migration über weite Distanzen nicht leisten. 2015 aber lagen wichtige Herkunftsländer von Asylsuchenden in der EU in relativer geographischer Nähe (Syrien, Irak, Südosteuropa). Die Kosten für das Unternehmen Flucht von dort hielten sich mithin in Grenzen – zumindest im Vergleich zu Bewegungen aus anderen globalen Konfliktherden etwa in West- oder Ostafrika, Südasien oder Lateinamerika, die selten Europa erreichen. Hinzu trat, dass mit der Türkei auch das wichtigste Erstziel des Großteils syrischer Flüchtlinge unmittelbar an EU-Länder grenzt – und zugleich vor dem Hintergrund der hohen Flüchtlingszahl im Land, eines prekären Aufenthaltsstatus und sehr beschränkter Möglichkeiten des Zugangs zu Bildung und zum regulären Arbeitsmarkt nur geringe Zukunftsperspektiven bot.
  2. Netzwerke: Migration findet vornehmlich in Netzwerken statt, die durch Verwandtschaft und Bekanntschaft konstituiert sind. Deutschland war 2015 auch deshalb zum wichtigsten europäischen Ziel von Asylsuchenden geworden, weil es hier seit längerem recht umfangreiche Herkunftskollektive gab, die für Menschen, die vor Krieg, Bürgerkrieg und Maßnahmen autoritärer Staaten auswichen, eine zentrale Anlaufstation bildeten. Das galt nicht nur für Syrer, sondern auch für Iraker, Afghanen, Eritreer und Südosteuropäer. Und weil migrantische Netzwerke die Wahrscheinlichkeit für weitere Migration erhöhen, hat die Zuwanderung von Asylsuchenden in die Bundesrepublik die 2015 zu beobachtende Dynamik gewonnen.
  3. Aufnahmeperspektiven: Staaten entscheiden mit weiten Ermessensspielräumen über die Aufnahme von Migrantinnen und Migranten und den Status jener, die als Flüchtlinge anerkannt werden. Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, bildet immer ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse des Aushandelns durch Individuen, Kollektive und (staatliche) Institutionen, deren Beziehungen, Interessen, Kategorisierungen und Praktiken sich stets wandeln. Mit der permanenten Veränderung der politischen, administrativen, publizistischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung von Migration verbindet sich ein Wandel im Blick auf die Frage, wer unter welchen Umständen als Flüchtling verstanden und wem in welchem Ausmaß und mit welcher Dauer Schutz oder Asyl zugebilligt wird. In den frühen 2010er Jahren und bis weit in das Jahr 2015 hinein ließ sich eine relativ große Aufnahmebereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland beobachten. Verantwortlich dafür war eine vor dem Hintergrund der günstigen Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt positive Zukunfts- erwartungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die seit Jahren laufende breite Diskussion um Fachkräftemangel und demographische Veränderungen führte ebenso zu einer Öffnung wie die Akzeptanz menschenrechtlicher Standards und die Anerkennung des Erfordernisses des Schutzes vornehmlich syrischer Flüchtlinge, aus der auch eine große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement resultierte.
  4. Aufhebung von Migrationsbarrieren: Seit den 1990er Jahren hat die EU ein System zur Abwehr von Fluchtbewegungen aufgebaut. Eine vielgestaltige europäische migrationspolitische Zusammenarbeit mit Staaten wie Libyen, Ägypten, Tunesien, Marokko, Albanien oder der Ukraine verhinderte seither weitgehend, dass Flüchtlinge die Grenzen der EU erreichen und um Asyl nachsuchen konnten. Diese EU – Vorfeldsicherung ist aufgrund der Destabilisierung diverser Staaten am Rand der EU (und anderem im Kontext des ›Arabischen Frühlings‹, aber auch des Ukraine-Konflikts) zusammengebrochen. Der Zerfall der politischen Systeme war eng verbunden mit den tiefgreifenden Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007/2008, die die gesellschaftlichen Konflikte in zahlreichen EU-Anrainerstaaten verschärfte, die staatlichen Handlungsmöglichkeiten beschnitt sowie die Bereitschaft und die Reichweite einer Zusammenarbeit mit der EU minimierte.
  5. Auflösung des ›Dublin- Systems‹: Die Weltwirtschaftskrise wirkte nicht nur auf den äußeren Ring der Vorfeldsicherung gegen Flüchtlingszuwanderung jenseits der Grenzen der EU, sondern auch in den inneren Ring hinein. Das seit den frühen 1990er Jahren entwickelte ›Dublin-System‹ diente der bewussten Abschließung der EU-Kernstaaten und insbesondere Deutschlands gegen weltweite Fluchtbewegungen, indem es die Verantwortung für die Durchführung eines Asylverfahrens jenen Staaten überließ, in die Flüchtlinge einreisten. Das konnten nur Staaten an der EU-Außengrenze sein. Lange funktioniert das System, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Zahl der Flüchtlinge, die europäische Grenzen erreichten, seit Mitte der 1990er Jahre relativ niedrig lag. Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise und im Kontext des Anstiegs der Zahl der Asylsuchenden aber waren diverse europäische Grenzstaaten, vornehmlich Griechenland und Italien, in den vergangenen Jahren immer weniger bereit und in der Lage, die ungleich verteilten Lasten des ›Dublin-Systems‹ zu tragen, die Flüchtlinge zu registrieren und in das jeweilige nationale Asylverfahren zu fügen.
  6. Die Bundesrepublik als Ersatz-Zufluchtsland: Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise führte innerhalb der EU dazu, dass die Bereitschaft traditionsreicher und sehr gewichtiger Asylländer wie z. B. Frankreich oder Großbritannien sehr erheblich sank, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. In diesem Kontext wurde die Bundesrepublik 2015 gewissermaßen ein Ersatz-Zufluchtsland und damit zu einem neuen Ziel im globalen Fluchtgeschehen. Die globale Flüchtlingsfrage ist erst mit der deutlich vermehrten Zahl von Schutzsuchenden 2015 Gegenstand intensiver Diskussionen in Deutschland und Europa geworden.

Eine globale Flüchtlingsfrage bedarf eines globalen Flüchtlingsregimes. Bereits seit dem Ersten Weltkrieg wird die Flüchtlingsfrage als internationale Herausforderung verstanden. Ein Flüchtlingshochkommissar, damals des Völkerbundes, amtiert seit 1921. Aber auch nach beinahe 100 Jahren ist das internationale Flüchtlingsregime noch immer nicht durch Regeleinrichtungen geprägt. Es funktioniert vielmehr auch gegenwärtig noch im Notfallmodus, verfügt nicht über auch nur im entferntesten ausreichende Etats und Mitarbeiterstäbe, kann mithin weder proaktiv noch präventiv arbeiten. Vor dem Hintergrund der in den vergangenen Jahren stetig gewachsenen Aufmerksamkeit gegenüber der globalen Flüchtlingsfrage wäre es an der Zeit, eine neue, internationale Verabredung über die Normen, Werte und institutionellen Erfordernisse des globalen Flüchtlingsregimes zu treffen. Insbesondere eine wesentlich bessere Ausstattung des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen könnte einen zentralen Beitrag dazu leisten, die Möglichkeiten zur Durchsetzung der Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu verbessern, Fluchtkonstellationen im Kontext von Kriegen, Bürgerkriegen und Maßnahmen autoritärer Systeme bereits im Ansatz zu erkennen und frühzeitig Schutzmaßnahmen für Flüchtlinge zu ergreifen, um humanitäre Katastrophen verhindern, mindestens aber in ihrem Ausmaß erheblich reduzieren zu können“  (Jochen Oltmer, a. a. O. S. 127 ff.).

2024 ist die Zahl der weltweiten Migrantinnen und Migranten auf 304 Millionen Menschen gestiegen (vergleiche dazu https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/bevoelkerung-arbeit-soziales/bevoelkerung/Migration.html#:~:text=). „Laut dem aktuellen Global Trends-Report vom UNHCR waren Ende 2024 123,2 Millionen Menschen auf der Flucht. Im April 2025 sank die Zahl auf weltweit 122,1 Millionen Menschen. Ein Jahr zuvor waren es gut zwei Millionen Menschen weniger gewesen. Bei steigenden Vertriebenenzahlen bleibt ein Lichtblick: Die Zahl der zurückgekehrten Flüchtlinge und Binnenvertriebenen ist 2024 ebenfalls leicht gestiegen. Weltweit drohen massive Kürzungen bei der humanitären Hilfe – mit dramatischen Folgen für Millionen Geflüchtete und Vertriebene. Ohne ausreichende Mittel bleiben lebenswichtige Hilfen aus, nachhaltige Projekte müssen gestoppt werden. Auch eine sichere und würdevolle Rückkehr in die Heimat wird für viele unmöglich. Werden Fluchtursachen wie Krieg, Gewalt und Verfolgung nicht bekämpft, und fehlt es gleichzeitig an Hilfe, bleibt vielen Menschen nur die erneute Flucht (https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen).

Wenn Bundesinnenminister Alexander Dobrindt der Bundespolizei am 7. Mai 2025 ausdrücklich erlaubt hat, Asylsuchende bei Grenzkontrollen auch dann zurückzuschicken, wenn sie ein Schutzgesuch äußern, und Bundeskanzler Friedrich Merz an dieser Regelung festhalten will, ist dieses Vorgehen rechtlich zumindest fragwürdig. Die Vorgängerregierungen hatten ein solches Vorgehen mit Verweis auf das europäische Recht abgelehnt. Es verpflichtet Mitgliedstaaten dazu, zumindest zu prüfen, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist (vergleiche dazu Asyl und Migration unter https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/asyl-und-migration/zurueckweisung-an-der-grenze und Kontroverse über Zurück­weisung Asylsuchender an deutschen Grenzen unter https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2025/kw23-de-binnengrenzen-1076006). Man kann gespannt sein, wie der Antrag an den Deutschen Bundestag Drucksache 21/341 vom 3.6.2025. „Europarecht einhalten, Schutzbedürftige schützen, Zurückweisungen an den Binnengrenzen beenden“ beschieden werden wird (vergleiche dazu https://dserver.bundestag.de/btd/21/003/2100341.pdf).

ham, 8. August 2025

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