Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2019, ISBN 978-3-8031-3687-9, 192 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Duplex, Klappenbroschur, Format 26 x 18 cm, € 30,00 (D) / € 30,90 (A)

Wer das Glück hat, eine ihn interessierende Stadt mit einem Urbanisten erkunden zu können, wird erstaunt sein, was man alles aus Mikroarchitekturen im Stadtraum wie einem Kiosk, einer Trinkhalle und Straßenbahnhaltestellen und scheinbar belanglosen Nebensächlichkeiten wie Bänken, Abfallkörben, Straßenschildern und Ampel ableiten kann. Die Urbanistik widmet sich der Erforschung von Städten unter sozialen, geografischen, historischen, ökologischen und städtebaulichen Aspekten und schließt auch die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen nicht aus. 

Das jetzt von dem 1951 in Rom geborenen italienischen Architekten, Architekturtheoretiker, Architekturhistoriker und ehemaligen Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich Vittorio Magnago Lampugnani vorgelegte Kompendium der kleinen Dinge im Stadtraum kann zwar beim Gang durch die Stadt nicht unmittelbar auf direkte Rückfragen antworten, aber es erschließt die geschichtlichen Hintergründe, die Blüte und die heutige Bedeutung der zumeist übersehenen Verkehrsampeln, Sitzbänke, Abfallkörbe und Schachtdeckel. Lampugnani unterscheidet zwischen Mikroarchitekturen im Stadtraum wie den Metro-Eingängen, öffentlichen Toiletten und Telefonzellen, Objekten wie Denkmälern, der Straßenbeleuchtung und Stadtuhren und städtischen Elementen wie Schaufenstern, Einfriedungen und dem Bodenbelag. In aller Regel leitet er seine kurzweilig zu lesenden 22 zwischen fünf und neun Seiten langen, reich bebilderten Kapitel mit Hinweisen zur Herkunft der besprochenen Objekte ein. So geht das Wort Kiosk auf das mittelpersische ›kusk‹ zurück, das so viel wie Ecke oder Winkel bedeutete und als ›kjosk‹ ins Türkische und später als ›kiosque‹ ins Französische, als ›quiosco‹ in Spanische, als ›chiosco‹ ins Italienische, als ›kiosk‹ ins Englische und als ›Kiosk‹ ins Deutsche einwanderte.

Es folgen knappe Hinweise auf den geschichtlichen Hintergrund. So kamen die Brunnen- oder Trinkhallen in den Kurorten des frühen 19. Jahrhunderts auf. Herausragende Beispiele sind die Brunnen- und Wandelhalle, die Karl Friedrich Schinkel 1823 in Bad Aachen errichtet hat (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=Brunnen-+und+Wandelhalle+von+Friedrich+Schinkel+1823+in+Bad+Aachen&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwitn_a_
qtXlAhVOTcAKHWe1Av8QsAR6BAgJEAE&biw=1324&bih=912) und jene, die Heinrich Hübsch knapp zwanzig Jahre später im Kurgarten von Baden-Baden schuf (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Trinkhalle_Baden-Baden). Mit der Verbreitung des künstlich hergestellten Mineralwassers kamen sie in den städtischen Raum. Ludwig Mies van der Rohes 1932 in Dessau errichtete Trinkhalle gilt als architektonische Meisterleistung (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=Ludwig+Mies+van+der+Rohes+1932+in+Dessau+errichtete+Trinkhalle&t

bm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahKEwiwlcaUrNXlAhUKEcAKHZsoDE8QsAR6BAgHEAE&biw=1324&bih=912).

Hinweise auf literarische und filmische Zitate und das Verschwinden der Objekte schließen die Kapitel ab. So wurden im Dritten Reich viele Trinkhallen abgerissen, weil sie vermeintlich das Bild einer repräsentativen Stadt störten. Die Telefonzelle ist über die Literatur, die Malerei und den Film zum Bestandteil unserer kollektiven Vorstellung geworden. In Alfred Hitchcocks ›Die Vögel‹ wird sie zum rettenden Zufluchtsort von Tippi Hedren, die sie eine Zeit lang vor dem mordlustigen Gefieder schützt. In Don Siegels ›Dirty Harry‹ muss Clint Eastwood von Telefonzelle zu Telefonzelle durch halb Francisco hetzen, um ein entführtes Mädchen zu retten und in ›Matrix‹ sucht Carrie-Anne Moss in einer Telefonkabine einen Ausweg aus der künstlichen Computerwelt. Mit der Einführung der Mobiltelefone werden die Telefonhäuschen als Einrichtungen der Fernsprechkommunikation verschwinden. Doch auf unseren Straßen und Plätzen werden sie fehlen. Vielleicht werden deshalb einige von ihnen zu Internet-Kabinen aufgerüstet und andere zu Mikrobibliotheken, Mikromuseen und Mikrobars werden.

Vittorio Magnago Lampugnani hat 1977 in Stuttgart promoviert und 1983 den Dottore in Architettura an der Universität Rom erworben. 1984–85 war er Professor an der Graduate School of Design der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, 1990 bis 1994 Universitätsprofessor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste (Städelschule) und Direktor des Deutschen Architektur-Museums in Frankfurt am Main und 1994 bis 2016 ordentlicher Professor für Geschichte des Städtebaus an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Er gilt als einer der international bedeutendsten Stadtwissenschaftler.

ham, 6. November 2019

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