Liebe Freundinnen und Freunde der Nordheimer Scheune, meine sehr geehrten Damen und Herren,
wer Landschaft in Nordheim leibhaftig erleben will, braucht bei guter Sicht nur vom alten Neckar aus dem im 15. Jahrhundert an der nördlichen Grenze von Württemberg errichteten Landgraben bis zum 315 Meter hoch gelegenen Wartturm auf dem östlichen Ausläufer des Heuchelbergs zu folgen, diesen 20 Meter hohen Turm zu besteigen und von dessen oberer Plattform aus zurück nach Osten auf die die Löwensteiner Berge und die Kühltürme des Kraftwerks von Heilbronn zu blicken, nach Südosten auf die von der Sage von den treuen Weibern von Weinsberg her bekannte Weibertreu und das westliche Ende von Nordheim, nach Süden auf den Stromberg, die mit dem Erzengel Michael verbundene Michaelskirche auf dem 395 Meter hohen Michaelsberg und den Fernsehturm von Stuttgart, nach Westen auf den Wald auf dem Heuchelberg und die Weinberge an seinem südlichen Rand und nach Norden auf Leingarten und das Leintal.
Wer aber in der Tiefe erfassen will, wie vielfältig und differenziert Landschaften in der Malerei dargestellt worden sind, muss Kunstgeschichte studieren und braucht damit sehr viel länger. Er sollte sich dann in der altorientalischen, ägyptischen, kretischen und in der Kunst des antiken Roms umsehen, im Mittelalter die ottonische Buchmalerei, Giotto und seine Schule, Lorenzetti, Fra Angelico, die Brüder von Limburg und ihr Stundenbuch Trois Riches Heures des Duc de Berry, Jan Van Eycks Genter Altar und Leonardo da Vincis Arno-Landschaft studieren und darf die ostasiatische Kunst nicht vergessen. Im Übergang zur Neuzeit kommen Albrecht Dürers Großes Rasenstück auf ihn zu, Albrecht Altdorfers „Donaulandschaft bei Regensburg“ und Adam Elsheimers Flucht nach Ägypten. Er kommt um Claude Lorraines lyrische Kompositionen und Nicolas Poussins heroische Landschaften ebenso wenig herum wie um die Niederländische Landschaftsmalerei, die Venezianer, die Engländer, Carl Blechens Bucht von Rapallo und seinen Tiberiusfesen auf Capri, Caspar David Friedrichs Mönch am Meer und seine Kreidefelsen auf Rügen, Segantinis flirrende Himmel, Ferdinand Hodlers Landschaft am Genfer See und vieles andere mehr.
Deshalb ist es verständlich, dass Landschaftsmalerei im Übergang zum 21. Jahrhundert, also in den Jahren, in denen Philipp Haager am Städel in Frankfurt studiert hat, alles andere als gefragt war. Was sollte man auch malen, wenn alles schon gemalt, variiert und wieder verworfen worden war? Bedenken dieser Art haben Philipp Haager nicht davon abgehalten, sich an figurativen Landschaften ohne Himmel zu versuchen. Aus diesen frühen Landschaften aus dem Jahr 2002 sind seine abstrakten Landschaften zum Mikro- und zum Makrokosmos herausgewachsen. Ab 2004 oder 2005 ist er von der Ölmalerei zur nass in nass in schwarzer Tusche gemalten Lasurmalerei übergegangen, mutmaßlich, weil sie es ihm erlaubt hat, den Blick nach innen zu richten. Ab 2008 imaginiert er in seinen Nearfield Paintings das Nahfeld elektromagnetischer Wellen und damit nur im Mikrowellenbereich vorstellbare Landschaften. Parallel dazu entstehen seine Bonsai Paintings, die seine großen Formate vorweg- und in sich aufnehmen.
Seine 2015 begonnenen Haager Deep Field Nebula Paintings denken den mit dem Hubble-Weltraumteleskop aufgenommenen und Hubble Deep Field genannten Teil des Sternenhimmels auf der Leinwand weiter, der die Untersuchung der Entwicklung von Galaxien im frühen Universum erlaubt. Haager ist für diese Werkgruppe nicht wie Ignatius von Loyola im 16. Jahrhundert in Rom auf das Dach gestiegen, um bei der Betrachtung des Sternenhimmels Trost zu empfangen. Und er hat auch kein Teleskop gebraucht. Auf seinen groß-, mittel- und kleinformatigen abstrakten Haager Deep Field Nebula Paintings auf Leinwänden, Stoffen und Papier bilden sich keine von der Netzhaut empfangenen Bilder ab, „sondern ein Korrelat dessen, was hinter der Retina entsteht, eine Langzeitbelichtung des inneren Auges. Haager spürt Lichtteilchen auf und protokolliert Lichtspuren. Ähnlich den Nebeln entfernter Galaxien entstehen so von Streulicht kreierte Bereiche. Hier dominiert Unschärfe, der Grenzwert des Konkreten löst sich in einem repetitiven Prozess andauernder Fraktalisierung auf“ (Hansjörg Fröhlich).
Mit seinen Dome Paintings kehrt Haager 2020 auf die Erde und zur Vielfarbigkeit zurück. Seine Dome Paintings verdanken ihren Namen und ihre Form den als Dom oder Kuppel bezeichneten Gewölben über kreisförmigen oder eckigen Grundrissen von Sakralbauten wie dem Dom St. Blasius im Hochschwarzwald, dem Zwiefalter Münster „Unserer lieben Frau“ oder dem Neumünster in Würzburg. Haagers Dome Paintings öffnen sich wie die Gewölbe von Kirchen und Kathedralen nach oben und werden, den Baldachinen bei Fronleichnamsprozessionen vergleichbar, zu Statthaltern des Himmels auf Erden. Sie zeigen seine Achtung für das, was über die Erde hinausgeht. Aber ihre in den Domen zentrale Bildmitte bleibt weiß. Haagers anfänglich vorwiegend in unterschiedlichen Schwarztönen ausgeführten abstrakten Landschaften haben sich ab 2010 für die Farben Rot, Orange und Grün geöffnet und sind mit den Dome-Paintings vielfarbig, meditativ und zugleich expressiv geworden.
Mit seinem in der Nordheimer Scheune erstmals gezeigten kleinformatigen weiß-schwarzen Sternenhimmel, seinen aquarellierten blauen, roten und gelben Sonnenauf- und Untergängen, seiner blau getönten Gebirgs- und seiner dunkelgrünen Waldlandschaft kehrt Haager zu seinen in der Akademiezeit gemalten figurativen Landschaften zurück, die er – recht bedacht – nie verlassen hat.
Wenn man ihn fragt, warum er nicht bei der Ölmalerei geblieben und auf die Tuschemalerei zugegangen ist, erinnert er zum einen an die Dämpfe, die bei der Ölmalerei entstehen, zum anderen an die Möglichkeit, Tuschen mit Wasser zu verdünnen, und schließlich an die Fließeigenschaften von Wasser, die in der Ölmalerei nicht zu haben sind. Seine in den Grundfarben Gelb, Rot und Blau gemalten Tuschen wirken im Kleinformat völlig anders als im Großformat und auf grundierten Leinwänden anders als auf ungrundierten. Sein Schwarz kann prächtig auf der grundierten Leinwand stehen, das Licht reflektieren und fürstlich glänzen, auf der ungrundierten Leinwand aber alles Licht absorbieren und geradezu matt herüberkommen. Braun erreicht er durch Mischungen aus persischroten, krapproten, zinnoberroten und grauen Tuschen. Seine als Phthalo-, Indigo- und Ultramarinblau eingesetzten blauen Töne verbinden die Exponate. Seine von einem ultramarinen Himmel über einem weißen, karminroten und gelben Horizont unterbrochene, annähernd DIN A3 große Dome-Painting-Reihe kommt wie Blätter aus einem Tagebuch daher. Die gegenüber hängende dunklere Reihe der sechs 60 x 30 cm großen Leinwände führt das Werden der Dome-Pantings aus den Nearfield– und Haager Deep Field Nebula Paintings vor und erinnert an individuell gestaltete mittelalterliche Folianten. Auf der Stirnwand bahnt das großformatige Nearfield-Painting dem noch größeren Dome-Painting den Weg. Dass sich Haagers Vorstellung vom Himmel auch in 10 x 10 Zentimetern vorführen lässt, zeigen schließlich und endlich seine quadratischen Kleinformate.
Es wird interessant sein, zu verfolgen, ob sich Haagers Werk in der jetzt erreichten Vielfalt weiterentwickelt oder ob er sich in einem nächsten Schritt auf den erstmals gezeigten figurativen Sternenhimmel, die Sonnenaufgänge, die Gebirgslandschaft oder den Wald konzentriert.