Die 1984 in Kempten im Allgäu geborene und heute in Ulm lebende Meisterschülerin der ABK Stuttgart Johanna Mangold hat sich ausgiebig mit Träumen auseinandergesetzt, in einem vierwöchigen Selbstversuch mit Klarträumen experimentiert, seit Jahren ein Traumtagebuch geführt und sich mit dem autobiografischen Gedächtnis, der Kreativitätsforschung und der Frage beschäftigt, warum minimale Veränderungen im Genom vom Primaten zum Homo Sapiens und damit zu einer völlig anderen Erscheinung der Spezies führen. Sie hat Erinnerungen an ihr Elternhaus, ihre Mutter, ihre Großmutter und eine Vielzahl von Traumbildern aufgezeichnet, sie mit archetypischen Figuren aus Mythen, Sagen und Märchen verwoben und einen individuellen visuellen Kosmos geschaffen, in dem die Grenzen zwischen Herkunft und Zukunft, Materie und Geist und Mensch und Tier verschwinden. Im Zentrum ihrer Figurationen stehen nicht mehr wie in der Tradition das Herz, sondern der Kopf, das Gehirn, das Elternhaus, das Mütterliche und Mischwesen.
In Mangolds Bildern werden menschliche Grunderfahrungen mit Träumen und Erinnerungen chiffriert und symbolisiert. Träume galten in Religionen über Jahrhunderte als Mittel der Initiation, der Zukunftsdeutung und der Erkundung des göttlichen Willens. Erste Belege stammen aus dem späten dritten vorchristlichen Jahrtausend. Im Alten Orient und in Ägypten sind sowohl erlebte als auch durch Inkubation absichtlich erzeugte Träume belegt. Beim Tempelschlaf suchte und erwartete man göttlichen Rat. Traumspezialisten halfen bei der Deutung. Josef konnte nach 1. Mose 41 die Träume des Pharaos von den sieben mageren und sieben fetten Kühen am Ufer des Nils und den sieben vollen und dünnen Ähren so einleuchtend deuten, dass er danach die wichtigste Stellung im Land nach dem Pharao erhalten hat. Platon sah die Götter als Verursacher der Träume an, die Pythagoräer gingen von Dämonen aus. Aristoteles erklärte die Traumbilder dagegen als Restbewegungen der einzelnen Sinnesorgane, als psychophysische Manifestationen der Wahrnehmungseindrücke und damit schon damals letztlich als Tagesreste. Die Aufklärung verabschiedete mit der göttlichen Verursachung auch die Vorstellung, Träume würden irgendetwas erschließen.
Sigmund Freud hat 1899 den Traum als Wächter und Hüter des Schlafes und die Traumdeutung als Königsweg zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenlebens bezeichnet. Die heutige wissenschaftliche Traumforschung deutet dagegen keine Träume mehr. Sie beschränkt sich darauf, waches und geträumtes Erleben zu vergleichen und geht davon aus, dass Träumer und Träume in einer Wach-Traum-Kontinuität aufs engste verbunden sind. Demnach spiegeln viele Trauminhalte unsere Interessen, Sorgen und Aktivitäten. Geträumtes lässt sich evidenzbasiert nur dann untersuchen, wenn es auf die Person des Träumers bezogen und von diesem erinnert werden kann. Damit ist es aber nicht mehr übertrag- und verallgemeinerbar. Wie auch immer: Das kreative Potenzial von Träumen bleibt unbestritten. Und aus diesem Potenzial, aus Kindheitserinnerungen und aus persönlichen Erfahrungen erwachsen Mangolds Arbeiten.
Johanna Mangold ist mit ihrer Mutter und Großmutter aufgewachsen. Ihr Vater war Bergführer und ist schon vor ihrer Geburt bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen. Ihre Großmutter hat ihr in der Kindheit und frühen Jugend täglich Märchen und Sagen wie die von Baba Jaga erzählt, eigene Geschichten kreiert und sie mit Aspekten aus ihrem eigenen Leben verwoben. Dieses intensive Erleben hat Johannas Interesse an Spiritualität und weiblicher Schöpferkraft geweckt und den Boden für die Dominanz des Weiblichen in ihrer Figuration bereitet. Heute ist sie dabei, auch das Männliche zu entdecken. Für den verlorenen Vater steht der Berg.
Wenn man die in der Nordheimer Scheune gezeigte Auswahl von Zeichnungen, Malereien und Monotypien auf Papier aus zwischen 2019 und 2022 entstandenen Serien überblickt, fällt einem einmal das gleichrangige Nebeneinander von grafischen, malerischen und von Arbeiten auf, in denen die Grafik in Malerei übergeht. Mischformen werden wichtiger und die Unterscheidung zwischen den traditionellen Gattungen verliert an Gewicht. Mangold überarbeitet in vielen Arbeiten Monotypien mit Mitteln der Grafik und der Malerei. Dabei tritt die formal bedingte Unschärfe der Monotypie neben den entschieden gesetzten Zeichen- oder Pinselstrich. Dieses Miteinander von Setzung und Unschärfe fördert den Übergang. Mangolds in verschiedenen Druckschritten in einen pechschwarzen Fond von 50 x 40 cm gesetzter Kopf mit seinen vor Furcht starren Augen, seinem halb geöffneten Mund und seinem durch Kreisformen angedeuteten Kinn steht für diesen Übergang. Die Künstlerin hat nur die mittlere Haarpartie über der Stirn mit dem Pinsel verstärkt. Trotzdem wirkt die Monotypie wie eine Malerei.
Johanna Mangold, homeflesh, Monotypie (Öl) und Acryl auf Papier, 50 x 40 cm, 2021
Zum anderen fällt Mangolds unterschiedlicher Umgang mit Einzel- und mit gedoppelten Köpfen auf. Einzelköpfe könnten prototypisch für biologisch-physiologische Zustände von Angst, Furcht und alltäglicher Langeweile stehen, der behaarte Hinterkopf über einer Schulterpartie für Abwendung oder Abschied und der Kopf eines Mischwesens für eine vermenschlichte Eule, die aber auch als Hinterteil eines Pferdes durchgehen könnte.
Johanna Mangold , Ohne Titel, Aquarell und Acryl auf Papier, 65 x 50 cm, 2019
In einem von Ocker dominierten Fleckenfeld sitzt eine in eine Spielfigur transformierte überlebensgroße Maus. Sie schaut nach rechts. Ihr türkisblauer Fuß korrespondiert mit dem Ocker. Auf ihrem Rücken wachsen Stummel oder Flügel. Die Finger ihrer rechten Hand wirken wie die von Menschen. Die Maus scheint zu verstehen, was sie sieht.
Johanna Mangold, Ohne Titel, Mischtechnik auf Papier, 100 x 70 cm, 2021
Mangolds gedoppelte Köpfe könnten gelungene und misslungene Begegnungen mit sich selbst und mit anderen chiffrieren. In einer grafisch konzipierten Arbeit setzen sich ein Mann und eine Frau auf einer Waage gegenüber. Sie schauen einander an und wägen ab, ob es zusammen klappen könnte. In einer klassisch angelegten weiteren Malerei wirft ein Glatzkopf ein Auge auf eine bezopfte Frau. Zwischen den Köpfen schwebt eine dritte Person. Sie behindert das weitere Kennenlernen. In der parallelen Arbeit geht die Begegnung weiter. Das Paar tauscht einen heftigen Zungenkuss aus.
Johanna Mangold, du ich anatomia, Acryl und Aquarell auf Papier, 50 x 65 cm, 2019
Johanna Mangold, du ich anatomia, Acryl und Aquarell auf Papier, 50 x 65 cm, 2019
In einer Pinselzeichnung fressen sich der Mann und die Frau förmlich mit den Augen auf. Doch dabei bleibt es nicht. Die Männerunterhose zwischen den beiden legt vor aller Augen offen, dass sie sich an die Wäsche gehen.
Johanna Mangold, Ohne Titel, Monotypie (Öl), Farbstift auf Papier, 100 x 70 cm, 2021
Johanna Mangold, in the forest, Gouache auf Papier, 50 x 40 cm, 2022
Alle bisher besprochenen Grafiken und Malereien weisen Mangold als virtuose Malerin und Zeichnerin aus. Ihr in raschen Pinselschwüngen hingeworfenes, aus groben Steinen aufgemauertes Haus, ihre wohl 30 oder 35 kleinen Gesichter mit visionär aufgerissenen Augen, hinter denen sich ein männliches Gesicht versteckt, und ihre akribisch ausgeführten Gouachezeichnungen, in denen eine paradiesisch nackte Frau einer Schlange, einem Fuchs und schließlich auch noch einem Vogel begegnet, bestätigten das Urteil. Johanna Mangold kann in ihren Monotypien, Malereien, Zeichnungen und in den von ihr erfundenen Mischformen zwischen den Gattungen anpacken, was sie will: Es gelingt.
ham, 7. Mai 2022