Eröffnung am 27. 04. 2024

 

Liebe Freundinnen und Freunde der Nordheimer Scheune, meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ausstellungstitel zeigen Besuchern mittel- oder unmittelbar an, was sie in den von ihnen besuchten Ausstellungen erwartet. Die 1986 in Taipeh,Taiwan geborene Absolventin des Masterstudiengangs für Schmuck, Silberschmiedekunst und verwandte Produktionen an der Birmingham City University und Meisterschülerin von Sophie von Hellermann an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe Hsuan-wei Chen, die von ihren Freunden JaJa genannt wird, und die zehn Jahre später in Südkorea geborene Meisterschülerin des Karlsruher Rektors Marcel van Eden Hojeong Lee haben sich nach meiner Einladung in die Nordheimer Scheune auf den Titel „Eat, Drink and Draw“ geeinigt und mir dazu am 30. September 2023 Folgendes geschrieben: „Da wir zwei Zeichnerinnen sind, ist unser Hauptanliegen darauf gerichtet, die Bedeutung des Zeichnens in Erinnerung zu rufen. Die tägliche Praxis des Essens, Trinkens und Schlafens ist stark mit unseren beiden Arbeiten verbunden. Das zeigt auch an JaJas Vasen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[ich ergänze: – an denen sie damals gearbeitet hat –] und Hojeongs Zeichnungen, die von den Einflüssen der Alltagsgespräche geprägt sind. Der Titel kann sowohl in Deutsch als auch in Englisch sein“.

JaJa und Hojeong spielen in ihrer Erläuterung zu dem von ihnen gefundenen Titel sowohl auf die in die Kulturgeschichte der Menschheit eingebundenen Traditionen der Zeichnung als auch auf ihre Alltäglichkeit an, die wir von Kindern kennen – ich zitiere –: „Wenn Kinder im Vorschulalter ihre Alltagswelt malen, haben die Häuser windschiefe Dächer, weisen die gemalten Personen zuweilen weit mehr als fünf Finger an jeder Hand auf, während die Sonne Strahlen verschießt, die an ein angriffslustiges Stachelschwein erinnern. Ein Gefühl für räumliche Tiefe und Perspektive existiert noch nicht. Trotzdem verstehen die begeisterten Eltern meist jedes Detail, ›jedes Wort‹ des Bildes. Auch wenn der Papa auf dem Bild 27 Finger hat, kann er sich selbst mühelos identifizieren. Der erwachsene Betrachter kann also abstrahieren. Und auch die Sonne erkennen wir auf Kinderbildern schnell, selbst wenn sie noch so krakelig und phantasievoll gemalt wurde. Hauptsache sie ist gelb, verfügt über Strahlen und steht am oberen Bildrand. Dann nämlich entspricht der gelbe Tupfer dem inneren Musterbild, das wir in uns von der Sonne angelegt haben – wir erkennen also die Sonne auf dem Bild, ohne dass wir die wirkliche Sonne sehen“ (Gregor Delvaux de Fenne, Erfindung der Schrift. In: https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/lernen/erfindung_der_schrift/pwievombildzumlautzeichenbildlicheabstraktion100.html). Die 40 000 Jahre alten Jagdszenen in der spanischen El-Castillo-Höhle (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Höhlen_von_Monte_Castillo) und die noch einmal fünftausend Jahre älteren Abbildung von Warzenschweinen in der Leang Tedongnge-Höhle auf der Insel Sulawesi in Indonesiens, die von menschenähnlichen Wesen verfolgt werden, erinnern entfernt an Piktogramme, die Informationen in der Form einfacher bildlicher Darstellungen ohne einen zusätzlichen Text vermitteln und die jeder unabhängig von Sprache, Kultur und individueller Erfahrung verstehen kann. Aus einfachen bildlichen Darstellungen sind im dritten Jahrtausend vor Christus in den sumerischen Kulturen Keilschriften und aus der Keilschrift in Ugarit um 1500 vor Christus das erste Alphabet entstanden.

 

 

JaJa wickelt in ihrer ABC-Serie das aus dem ugaritischen Alphabet in einem langen Prozess über Umformungen in phönizische, hebräische, griechische und lateinische Schriftzeichen entstandene deutsche Alphabet in seinen Buchstaben A bis K gleichsam rückwärts ab und transformiert die aus den abstrahierten Bildzeichen entstandenen Buchstaben wieder in bildliche Formen. Ihre aus der Verwandlung von Bildern in Schriftzeichen und von Schriftzeichen in Bilder entstandenen Zeichnungen kann man mit der Gestaltpsychologie und der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann als Kippfiguren interpretieren, die das Umkippen vom Lesen zum Sehen und den Wechsel von der Schrift zum Bild und wieder zurück buchstäblich vor Augen führen. Wenn wir lesen lernen, sehen wir die Buchstaben nach einiger Zeit nicht mehr bewusst und überlesen sie. Beim Überlesen eröffnen uns die Buchstaben und Wortfolgen Interpretationsspielräume. Sie wecken unsere Phantasie, lassen unsere Gedanken laufen und lassen unser Lesen ins Sehen kippen.

 

 

 

 

 

 

JaJas von der Schriftanatomie der Buchstaben ausgehendes hoch präzises bildnerisches Spiel mit zum jeweiligen Buchstaben erfundenen abstrakten Formen verlockt zum gedanklichen Nachvollzug dieses Spiels; die Kolorierung der von ihr gefundenen Buchstabenkörper mit farbgesättigten Neonfarben der Firma Faber-Castell weckt unsere Augenlust: So wird der ockergelbe Punkt auf dem Buchstaben I von vier dünnen Säulen getragen, deren Neongelb nach oben dunkler wird. Das Ocker des Punktes und das Neongelb der Säulen wird von einem dunklem Grau umfangen. Die neongelben Säulen stehen auf dem auf dem oberen Ende eines aus sechs violetten Kreisen aufgebauten Säulenschafts, der auf einer magentafarbenen Basis aufruht. Das Magenta und Violett dieses Säulenschafts ist in ein lichtes Neongrün gebettet, das an die Unterseite eines Grünspechts oder an farblich verfremdete, in ein leichtes Blau kippende Frühlingswiesen denken lässt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Violett des Buchstabens I wird im Hintergrund des Buchstabens J in einer etwas rötlicheren Tönung aufgegriffen. Das Magenta aus der Basis des Buchstabens I verwandelt sich im Körper des Buchstabens J in ein etwas helleres Rosa, das wiederum durch grüne Wucherungen auf dem nach links ausscherenden Unterbogen des J und das Grau in der Mitte des senkrecht aufragendenStamms des J gekontert wird.

Im rechten Abstrich des Buchstabens K wiederholt sich das Rosa ein drittes Mal, aber dieses Mal in einer noch blasseren Tönung. Auf dem Abstrich ruht ein weiß gepunkteter schwarzer Kreis. Der in ein schmales aufrecht stehendes Rechteck verwandelte vertikale Grundstrich des Buchstabens K ist violett koloriert und geht an seinem oberen Ende in ein Nachtblau über. Das Violett und das Nachtblau wird von dem hellen Blau eines wolkenlosen Mittagshimmels hinterfangen, das wir auch aus dem diesjährigen Frühjahr kennen. 

Wir können JaJas Zeichnungen natürlich auch mit der Aufgabe der Rubrikatoren in mittelalterlichen Schreibstuben und in der Anfangszeit des Buchdrucks in Verbindung bringen, die die Überschriften, Initialen, Lombarden, Buchstabenverzierungen und Zeichenfüller von Kodizes, Manuskripten und Wiegendrucken in der Regel mit Bleirot, aber auch mit Bleiweiß, Rot- und Gelbocker, Indigo, Lapislazuli und Gold händisch ausgezeichnet haben. Wie bei den Rubrikatoren verwandelt sich auch bei JaJa jeder Buchstabe in ein sprechendes Bild, das betrachtet und mit etwas Phantasie auch gelesen werden kann. Nichts, keine Farbe und keine Form wiederholt sich in der Folge der zu Bildern gewordenen Buchstaben. Aber alles ist mit allem verbunden, zeigt seine Verwandtschaft und seine Familienähnlichkeit an und schließt sich zu einem nach vorne offenen Ganzen zusammen. JaJa träumt davon, irgendwann einmal eine ganze Wand mit vergleichbaren Arbeiten zu füllen. Deshalb kann man gespannt sein, wie ihre Serie weiter- und zu Ende geht und ob sie vielleicht in einer ihrer nächsten Serien auch das Alphabet, das am Anfang aller Alphabete stand, das ugaritische Alphabet in Bilder zurückverwandelt.

Ob den Farben in Jajas Zeichnungen eine symbolische Bedeutung zukommt, kann an dieser Stelle nicht mehr diskutiert werden. Diese Frage würde uns in ein seit Goethes Farbenlehre kontrovers diskutiertes offenes Feld führen und einen eigenen Beitrag erfordern. Aber wir können sie ja im Anschluss an meine Rede vielleicht selber fragen.

In Hojeong Lees schwarz-weißen Zeichnungen stellt sich die Frage nach der symbolischen Bedeutung der Farben nicht. Sie sagt, dass Farben für sie zu schön sind und dass sie sie in ihrer Wahrnehmung überfordern. Deshalb setzt bei der Produktion ihrer Zeichnungen auf Bleistifte verschiedenster Härtegrade und auf das schwarz-weiße Spektrum, das  von Weiß über das zarte Grau bis zum tiefen Schwarz führt. JaJa hat ihren Zeichnungen dem ABC folgend abstrakte Titel gegeben;  Hojeong liebt es konkreter und schlägt Titel vor, die uns an das eigene Erleben erinnern. So heißt die Zeichnung im Flur links neben der Küchentüre ›Zeichner‹, die Zeichnung auf der rechten Wand im Flur ›Fuß‹, die Zeichnung über dem Treppenaufgang ›Saturday Night Bar‹, die erste Zeichnung auf der vom Aufgang her gesehenen linken Wand der Galerie ›Ohrstecker‹, die zweite Zeichnung links ›Stern‹, die dritte links heißt ›Sofa‹ und die dritte rechts ›Zeichners Sofa‹; die erste rechts wirf ›Dendelion Bed‹ (Löwenzahnbett) betitelt und die zweite rechts ›Good man’s dog‹. 

 

Ich habe in der  vergangenen Woche Hojeongs Zeichnungen zur Vorbereitung meiner Rede ein ums andere Mal aus der Ferne und aus der nächsten Nähe angeschaut und sie in groben Linien abgezeichnet, um sie besser zu verstehen. Dabei habe ich im Flur den beim ersten Blick übersehenen ›Fuß‹ entdeckt und links neben der Küchentüre den profiliert ausgeführten Kopf mitsamt seiner Abschattung, eine Hand mit einem Bleistift, Kreisbewegungen um eine Mitte herum und eine sich drehende Scheibe und schließlich die Worte ›dancer‹, ›beauty‹, ›fine‹ und weitere mir unverständliche und im Verlauf des Entstehungsprozesses der Zeichnung unlesbar gewordene Worte.  Auf der Zeichnung über dem Treppenaufgang habe ich zwei Gesichter gesehen und auf der Zeichnung ›Stern‹ zwei Seesterne. Aber die Zeichnungen ›Sofa‹ und ›Zeichners Sofa‹ haben zwar meine Fantasie angeregt und es sind mir mögliche Deutungen eingefallen. Aber letztlich sind für mich mehr oder weniger abstrakt geblieben und sie haben mich ebenso ratlos zurückgelassen wie die Zeichnungen ›Good man’s dog‹ und ›Thursday Negotiating Table‹ (Donnerstag Verhandlungstisch). Als mir aber Hojeong gestern ihre Titel zugeschickt hat und ich die Titel den bisher nicht verstandenen Zeichnungen zuordnen konnte, habe ich sie unmittelbar verstehen und sofort lesen können. Mit den Titeln im Kopf haben sich für mich die von der Künstlerin gefundenen und gewählten grau-schwarzen bildnerischen Kürzel für ›Sofa‹, ›Hund‹ und ›Zeichner‹ erschlossen und mit den eigenen Erinnerungen an Besuche in Wohnzimmern mit Sofas aus den Vor- und Nachkriegszeit, an unsere Nachbarn, die ihre beiden Hunde Tag für Tag am Katzenbach und in den Weinbergen Nordheims spazieren führen und an meinen Zeichenunterricht bei Willus Brenner im Robert Mayer Gymnasium Heilbronn verbunden. Mit all dem, was mir durch den Kopf ging, ist das Schwarz-Weiß auch dieser Zeichnungen lebendig und zu einem Teil von mir geworden.

 

 

 

 

Hojeong lässt sich seit ihrer Kindheit von Gräsern, Pflanzen, Wäldern und der sie umgebenden Welt ebenso berühren wie von Tieren und Menschen. Sich berühren zu lassen und selber zu berühren ist für sie eine Form der Kommunikation, einer Kommunikation, die keine Worte braucht. Das gilt auch für ihre Zeichnungen, deren Bildaufbau für sie schon ein Teil des kommunikativen Prozesses ist, den sie anstrebt. Die Vielzahl der in ihren Zeichnungen übereinander geschichteten Linien ist für sie einerseits auf ein gutes Ergebnis und  auf das Gefühl  ›Jetzt ist es gut‹ angelegt– schlechte Zeichnungen werden sofort zerrissen und landen im Papierkorb – , und andererseits auf den Betrachter, den sie zu einem Gespräch einladen will, das auch in ihrer Abwesenheit weitergehen kann. Ich habe mir vorgenommen, in den nächsten Wochen das Gespräch mit der Zeichnung ›Thursday Negotiaten Table‹ zu suchen, weil mich diese Arbeit an nicht immer einfache Verhandlungen mit dem Evangelischen Oberkirchenrat und mit meinem Stiefbruder erinnert. Vielleicht lässt sich in diesem Gespräch ja bisher Übersehenes klären. Ich bin sicher, dass auch sie in den Arbeiten von Hojeong die Zeichnung finden könnten, bei der sich für Sie ein Gespräch lohnt. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abschließend bleibt noch anzumerken, daß Hojeong ihre Rahmen selber baut und sie als Teil ihrer Arbeiten versteht. Aber darüber zu sprechen muss warten. Ich denke, für heute ist es genug.

ham, 27. April 2024

 

 

 

 

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