Liebe Freundinnen und Freunde der Nordheimer Scheune, meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich, Sie heute bei der Eröffnung unserer Ausstellung ›Cameron Tauschke, Substrat‹ begrüßen zu können. Sie lassen sich in der Norheimer Scheune auf 19 Malereien aus Tauschkes neuester Serie ›Valleys of the heart‹ und 7 Malerei aus seiner Vorgängerserie ›Bell Towers‹ ein. Ich mutmaße, dass Sie sich gefragt haben, wie ein 1971 in Melbourne geborener australischer Künstler nach Nordheim gekommen ist.

Das ist schnell erzählt: Bei Tauschkes erinnert man sich an einen Tauschke, der 1850 in Danzig gelebt hat und zur See gefahren ist. Dabei ist er mit Stückgut auch nach Australien gekommen. 1851 hatte man in Beechworth, Ballarat und Bendigo im australischen Bundesstaat Victoria Gold entdeckt. Der Victorianische Goldrausch dauerte bis Ende der 1860er Jahre und in dieser Zeit hat man in diesem Gebiet das meiste Gold der Welt gefunden. Auf dem Höhepunkt des Goldrauschs flossen ungefähr zwei Tonnen Gold pro Woche in das Schatzamt in Melbourne. In der Familie von Cameron Tauschke nimmt man an, dass der Danziger Tauschke von diesem Goldrausch profitieren wollte und deshalb in Victoria geblieben ist. Dort hat er eine aus Irland eingewanderte Frau geheiratet und sein Glück gefunden. Ob er reich geworden und seine Nuggets auf dem Schatzamt in Melbourne abgeliefert oder unter seinem Kopfkissen versteckt hat, ist offen. Camerons Großeltern wollten es genauer wissen und sind deshalb dreimal nach Deutschland gereist. Aber sie haben nichts Näheres herausgefunden. Und so suchen die australischen Tauschkes noch heute weiter.

Letztlich hat diese Erzählung wohl auch  Cameron Tauschke nach Deutschland geführt. Aber auch er hat das Gold des Danziger Tauschke bis heute nicht gefunden, dafür aber Peggy, eine Ostberlinerin. Und deshalb ist er in Deutschland geblieben und knüpft mit seinem Nachnamen an den Danziger Tauschke an. Allerdings hat das einen längeren Umweg gebraucht: Nach seinem Malereistudium in Melbourne wollte er unbedingt die reale Welt erleben. Der ausgeschlagene wäre der akademische Weg gewesen, ein Meisterschülerstudium und irgendwann eine Professur. Aber die Schönheiten dieser Welt haben ihn mehr interessiert. Deshalb ist er nach seinen Examen sechs Monate durch Indien und Nepal gereist und hat dort Metropolen wie Delhi, Museen, Tempelanlagen und Landschaften studiert. In den zwei folgenden Jahren in London hat er mehr gelernt als in drei Jahren Kunstakademie. Er hat sich mit der Popart auseinandergesetzt und mit Tusche experimentiert, die Arbeiten der Chapman-Brüder, von Jean-Michel Basquiat, die Medienarbeiten von Jenny Holzer und die Klassiker bis hin zu Monet rezipiert und sich für die Pastelle von Edgar Degas und im Centre Pompidou in Paris für das Lebenswerk von Francis Bacon begeistert. Kurz: Er hat die Großen der Kunstgeschichte und der Gegenwartskunst vor Ort und den Originalen „inhaliert“ und für sein Verständnis von Qualität fruchtbar gemacht.

Auf weiteren Reisen durch Zentralasien, den Iran, Pakistan, Usbekistan, Kirgistan, Kasachstan und die Türkei und auf der Suche nach Inspiration hat er sich auf Trekking-Touren die Schönheit und Erhabenheit des Hochgebirges ebenso erschlossen wie die dem strikten Einhalten des Bilderverbots geschuldeten ästhetischen Abstraktionen der islamischen Kunst und Architektur und ihre Farbgebung. Seither gehört Türkis zu den von ihm bevorzugten Farben. Über das Anfang des 21. Jahrhunderts im Kunstsystem gehypte Berlin ist er dann auf Nordheim aufmerksam geworden. Er hat dort wahrgenommen, dass die von ihm hochgeschätzten in Berlin lebenden Künstler Sven Drühl und Ruprecht von Kaufmann von mir im Hospitalhof Stuttgart und in der Nordheimer Scheune ausgestellt worden sind. Und dann kamen wir nach einem längeren Anlauf zu einer Absprache für seine Ausstellung „Substrat“.

Mich hat an Cameron Tauschkes Malerei neben ihrem offenen und experimentellen Charakter vor allem ihre kühle Farbgebung interessiert. Tauschke arbeitet mit Tuschen, Tinten, Gouache, Acryl und Öl und beschränkt sich in aller Regel auf drei Farben, deren Tonwerte er minimal verändert und in ihrer ganzen Breite auslotet. Seine Arbeiten tendieren zur Monochromie, sind aber nicht monochrom, sondern, wenn Sie so wollen, trichrom. In seinen Kompositionen liegt der Fokus auf der Erfassung des Gleichgewichts von Kontrasten. Darunter versteht er akkurate Linien, die er neben organische Formen positioniert und gestenhafte Pinselstriche, die er neben präzisen Formen setzt. Die Energie und Aura seiner Bildsprache baut sich auf diesen in der Gesamtkomposition aufgehobenen formalen Gegensätzen auf. Neben der reinen Malerei stehen Collagen, in denen sich die Vielfalt des kulturellen und alltäglichen Lebens spiegelt. Die Einzelelemente dieser Collagen stammen aus von Bibliotheken ausgemusterten Büchern. Sie werden ausgeschnitten, spielerisch in die Kompositionen eingepasst und teilweise übermalt. So sind in die Arbeiten der Serie ›Valleys of the heart‹ papierene Herzen aus medizinischen Bänden, ein umsäumtes Herz auf Stoff, Bergsteiger auf einem Gipfelgrat, Falken, Kaminfeger, Pilze, mikroskopische Aufnahmen vom Innenleben einer Zelle und fechtende Landsknechte eingegangen.

Wenn man den Titel seiner Serie ›Valleys of the hearts‹, Täler der Herzen‹ hört, kann einem vielleicht die gleichnamige Lovestory von Luis Valdez aus dem Jahr 1941 einfallen, die die Einwanderungsgeschichte einer mexikanischen und einer japanischen Familie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Nordkalifornien erzählt. Aber Tauschkes Serientitel ist nicht übernommen, sondern zum zweiten Mal auf dem Hochgebirge erfunden: Bei seinen Trekking-Touren standen Tauschke immer auch die Täler vor Augen, die wir durchwandern müssen, wenn wir zu uns selbst, zu Gott und zu den Menschen kommen wollen, die wir lieben. Ein Theologe denkt beim Stichwort „Tal“ natürlich sofort an Psalm 23 und den Vers „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“ (Psalm 23, 4). Beim Stichwort „Herz“ fallen einem Redensarten wie „Jemanden im Herzen tragen“, „Einem sein Herz schenken“, „Ein weites Herz besitzen“, „Seinem Herzen einen Stoß geben“, „Das Herz auf der Zunge tragen“, „Hand aufs Herz“ oder „Folge deinem Herzen“ und der Liedvers „Herz und Herz vereint zusammen sucht in Gottes Herzen Ruh“ von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf aus dem Jahr 1725 ein, der 1700 in Dresden geboren wurde und 1760 in Herrenhut gestorben ist. 

Die sprichwörtlichen Redensarten beruhen auf der alten Auffassung des Herzens als dem Sitz der Empfindung und des Muts. Als lebenswichtiges Zentralorgan steht es symbolisch für Mitte. Im Hinduismus gilt es als Ort des Kontakts mit Brahman, der Personifikation des Absoluten. Im alten Griechenland repräsentiert es zunächst das Denken, Führen und Wollen des Menschen und später das Geistige. Im Juden- und Christentum gilt es als Sitz der gemüthaften Kräfte, besonders der Liebe, aber auch der Intuition und der Weisheit. Im Islam steht es für den Ort der Kontemplation und der Spiritualität. Heute gilt es vor allem als Symbol der Liebe. In einer der Arbeiten der Serie werden zwei mit über  die Aorta, die Hauptschlagader, und die Hohlvene verbundene Herzen gezeigt; es sind wohl die Herzen zweier Liebender. In einer anderen Arbeit kämpfen zwei Gladiatoren um ein Herz; vielleicht ist es das Herz einer von beiden Kämpfern begehrten Frau. In einer dritten schwimmen Herzen über die Milchstraße aus dem Kosmos auf Eisschollen auf den Betrachter zu. Ich frage mich, ob Tauschke damit sagt, dass der ganze Kosmos auf Mitfühl und Liebe ausgerichtet ist und ob die Serie Gegenbilder zu Krieg und Hass in unsere Seelen einbrennen will.

Seine Serie der Glockentürme kam Tauschke auf einer Reise durch Andalusien in den Sinn. Er hatte mit Peggy in der Kleinstadt Rhonda einen Kirchturm bestiegen und über dem Rundblick vergessen, dass es gleich zwölf Uhr läuten wird. Um zwölf Uhr ging dann, wie er sagt, „die Hölle los“. Das Geläut war so stark, dass es die beiden keine Minute länger auf dem Kirchturm ausgehalten und ihn fluchtartig verlasen haben. Eindrücklich war für ihn auch die Begegnung mit den zwei in der Nacht zum Palmsonntag 1942 aus dem brennenden Glockenturm von St. Marien in Lübeck angeschmolzenen, abgestürzten, und zerschellten Glocken, die an der Stelle dieses südlichen Turms an Gewalt und die Schrecken des Krieges erinnern und vor jedem weiteren Krieg mahnen.

Die Legende von den Nordheimer Glockenstupfern, die nach dem Verlust ihrer in Kriegszeiten zu Kanonenkugeln umgegossenen Glocken einen weiteren Glockenraub verhindern wollten und sie deshalb im Neckar versenkt und dort nicht mehr gefunden haben, war Tauschke verständlicherweise nicht bekannt. Ich habe sie 

ihm dieser Tage beim Glockenstupferbrunnen von Karl-Henning Seemann vor der Bartholomäuskirche erzählt.

Für Tauschke stehen Glocken vor allem für vergehende Zeit. Sie erinnern ihn an seine Göttinger Jahre, in denen ihm die Glocken der 1000 Jahre alten Jakobi-Kirche jede vergangene halbe Stunde angeschlagen haben. Dass Glocken häufig die Verbindung von Himmel und Erde symbolisieren, zum Gebet und zum Gottesdienst rufen, bei Feuer und Krieg geläutet haben und als Widerhall der göttlichen Allmacht gelten, sei nur angedeutet. Und dass der fragmentierte Charakter der Serie das Abblättern und Vergehen von Plakaten in heutigen Kampf um Aufmerksamkeit aufgreifen, auch. Mich lässt der Glockenschlag an Hebräer 13, 14 denken: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“.

Dass die derzeit weltweit größte Glocke in keiner Kirche, sondern in einem buddhistischen Tempel im chinesischen Pfingdingshan zu finden ist, war mir bis vor wenigen Tagen noch nicht bekannt: Sie wurde im Jahr 200 gegossen, ist acht Meter hoch, hat an ihrer Basis einen Durchmesser von 5,10 Meter und wiegt 116 000 Kilogramm, also 116 Tonnen. Die schwerste schwingende Glocke im Kölner Dom, die Petersglocke wiegt gerade einmal 24 Tonnen. Die Glücksglocke in Pfingdingshan wird nicht geläutet, sie wird mit einer Holzstange an ihrem unteren Rand angeschlagen. Ihr Ton steht für eine gute Tat.

Ob Tauschke bei seiner Glockenserie auch an das Geläut des Swan Bell Towers in Perth in Westaustralien gedacht hat, weiß ich nicht. Dieses Geläut hat 18 Glocken, die in einem 82,5 Meter hohen Glockenturm aus Kupfer und Glas aufgehängt sind. Zwölf davon sind historische Glocken der Kirche St. Martin-in-the-Fields am Trafalgar Square in London. Die jüngste dort eingebrachte ANZAC-Glocke wiegt 6,5 Tonnen und soll 500 Jahre lang die Zeit anschlagen. Ob man dann noch an Cameron Tauschkes 2023 in der Nordheimer Scheune ausgestellte Glockenturm-Serie und an die Glockenstupfer von Nordheim denken wird, ist noch nicht ausgemacht. Man wird es sehen.

Helmut A. Müller

 

 

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