Als Palimpsest werden gewöhnlich abgeriebene und wiederbeschriebene Manuskriptseiten oder Schriftrollen bezeichnet. Die aus der Karlsruher Hochschule für Gestaltung hervorgegangene aktivistische Spaziergängerin, Szenografin und Trägerin des Kulturstipendiums der Stadt Karlsruhe Vera Gärtner erweitert den Begriff auf das Sichtbarmachen, Über- und Wiederbeschreiben von urbanen Räumen, Architekturen und Strukturen. In ihrer Ausstellung „Stadt als Palimpsest“ sonderteine Brunnenarchitektur Sound statt Wasser ab. Der überschriebene historische Stadtplan macht darauf aufmerksam, dass von den 1900 Karlsruher Straßen, Brücken und Plätzen 600 nach Männern und etwa 80 nach Frauen benannt sind, aber Queere und Transrealitäten, Personen mit Behinderungen und People of Color unsichtbar bleiben.

Leonie Mühlen, die zweite Trägerin des Kulturstipendiums, arbeitet neben ihrer freien künstlerischen Tätigkeit als Landschaftsarchitektin und lehrt an der Hochschule Kaiserslautern. Ihr Interesse gilt dem Umherstreifen und genauen Schauen an der Schnittstelle zwischen Zivilisation und Naturraum. In ihrer Ausstellung „Meine Augen sind zwei Tauben – Est-ce que tu me vois?“ fragt Mühlen, ob das gesellschaftliche Verdrängen von Obdachlosigkeit und die öffentliche „Unsichtbarkeit“ von Obdachlosen mit der Aufmerksamkeit für und dem Verjagen von Tauben im Stadtraum verglichen werden kann.

Das Karlsruher Kulturstipendium wird alle zwei Jahre im Wechsel an Absolventinnen der drei künstlerischen Hochschulen in Karlsruhe – Hochschule für Musik, Staatliche Akademie der Bildenden Künste und Staatliche Hochschule für Gestaltung – verliehen. Die Stipendiatinnen werden auf Vorschlag der jeweiligen Institution ausgewählt.

ham, 23. September 2024

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