Pagina Verlag, Goch, 2022, ISBN 978-3-946509-53-0, 120 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Texte von
Lina Hartmann, Christoph Danelzik-Brüggemann und Helmut A. Müller. Hardcover, gebunden,
Format 24,6 x 18,6 cm, € 22,00
Wenn nahe Angehörige versterben, werden die Zurückgebliebenen von Schmerz, Ohnmacht und Angst, aber auch von Wut und Schuldgefühlen überflutet. Bisherige Lebenspläne verlieren ihre Gültigkeit. Sie müssen neu- und umgeschrieben werden. Partnerschaften kommen auf den Prüfstand. Jede Trauer verläuft in eigenen Zeiträumen und Bahnen. Deshalb können sich nicht alle Paare gegenseitig stützen und die einen und die anderen gehen auseinander. Freundschaften zerbrechen. Bekannte wechseln auf die andere Straßenseite, weil sie sich der Trauer nicht aussetzen wollen oder können oder weil sie nicht wissen, was sie sagen und wie sie den Trauernden begegnen sollen.
Wenn Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit. Wenn Partner sterben, stirbt die Gegenwart. Wenn aber ein Kind stirbt, stirbt die Zukunft. Das macht das Weiterleben für Eltern so unendlich schwer. Es braucht seine geraume Zeit und es dauert, bis sie sich wieder auf das Leben einlassen können. Das Zimmer der Tochter oder des Sohnes bleibt über Monate unberührt und genau so, wie es vor ihrem Sterben war. Der Vater und die Mutter stürzen sich in Arbeit und kehren erst dann wieder ins Leben zurück, wenn sie zu begreifen beginnen, dass es für ihr Kind einen Platz in ihren Herzen gibt.
Das Düsseldorfer Künstlerpaar Ulrike Zilly und Robert Hartmann hat diesen Prozess beim Sterben und beim Tod ihrer Tochter Lina hautnah miterlebt. Als 2012 bei ihr Brustkrebs und 2014 ein Hirntumor festgestellt wurde, brach den Eltern der Boden unter den Füßen weg. Als Lina 2015 verstarb, war sie 27.
Robert Hartmann hat sich in den Jahren nach dem Ausbruch der Krankheit in Arbeit gestürzt und Ausstellungen unter anderem in Bochum und Düsseldorf organisiert, eine Ausstellung im National Art Museum of China in Peking vorbereitet und als Vorsitzender des Düsseldorfer Malkastens an dessen Zukunftssicherung gearbeitet. Ulrike Zilly hat dagegen kaum mehr gemalt und gezeichnet. Die Begleitung und Versorgung der Tochter waren anstrengend und haben sie viel Kraft und Energie gekostet.
Nach Linas Tod hat Zilly wieder zu malen und zu zeichnen begonnen und ihre Erinnerungen an ihr Sterben in über 600 Zeichnungen festgehalten. Damit steht sie in der Reihe von Künstlerinnen und Künstlern wie Ferdinand Hodler und Käthe Kollwitz, die ihre Trauer kreativ umgesetzt haben. Es hat dann aber noch einige Zeit gedauert, bis sie 2019 mit einer Ausstellung von Zeichnungen von Linas Sterben an die Öffentlichkeit gehen konnte.
Drei Jahre später stellt sie in ihrer Publikation ›Lina – Ich bin’s‹ über 100 Zeichnungen und Malereien aus ihrem Lina-Zyklus zusammen, in denen es mehrheitlich um die Frage geht, was das Sterben mit ihrer Tochter und was es mit ihr und ihrem Mann gemacht hat. Einige wenige Arbeiten gehen noch einen Schritt darüber hinaus. Sie zeigen, dass die zurückgebliebenen Eltern wieder ins Leben zurückkehren können.
Zu den Arbeiten der Mutter kommen in der Publikation neun Kinderzeichnungen der Tochter und die Fotografie einer Hafenszene, in der Lina mit ihrem ›bonnet rouge‹ auf die fotografierenden Eltern zurückblickt. In der 29,7 x 20,7 cm großen Zeichnung ›Lina im Hafen‹, in der Zilly die Szene wiedergibt, hat Lina ihren Kopf nach vorne gedreht. Sie schaut jetzt nicht mehr auf die Eltern, sondern auf das Meer und in die Ewigkeit.
Zwischen die Bilder und Zeichnungen sind einige Texte und Gedichte eingestreut, die Lina immer wieder an die häusliche Pinnwand geheftet hat. Sie geben der Publikation eine unerwartete Leichtigkeit und zeugen darüber hinaus vom Humor der Verstorbenen. Das gilt auch für ihr Gedicht „Ohne Blumen“:
„Ohne Blumen ohne Träume
Ohne schöne Purzelbäume
Ohne Käse ohne Speck
Hat das Leben wenig Zweck“ (Lina Hartmann).
ham, 29. September 2022