Verlag C. H. Beck, München 2025, ISBN 978-3-406-83219-2, 303 Seiten, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag, € 38,00

Der 1967 geborene deutsche Rechtswissenschaftler und Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Ulrich R. Haltern geht wie der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler und der ehemalige Vizekanzler Robert Habeck davon aus, dass sich mit Vladimir Putin und Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus die Landkarte der weltpolitischen Ideen radikal geändert hat. „Im Tumult von Klimakrise, Flüchtlingsströmen, Pandemiefolgen und Technologiewandel zerbröseln sowohl die Pax Americana als auch die europäische Friedensordnung, die Landkarte wird als Koordinatensystem von Vektoren großer Interessensphären neu gezeichnet und multipolare Geopolitik kehrt in Gestalt von konventionell eingesetzter Gewalt und strategisch eingesetzten Investitionen als Kriegs- und Wirtschaftsmacht zurück“ (Ulrich Haltern, S. 9). 

Gefragt, ob die israelisch-amerikanische Machtdemonstration mit Bomben auf iranische Atomanlagen eine bestehende atomare Bedrohung wirksam minimiert hat, wirksamer zumindest als alle regelbasierten diplomatischen Vorstöße der vergangenen Jahrzehnte, antwortet Herfried Münkler: „Zur Zeit muss man diese Schlussfolgerung ziehen. Ich glaube, das ist so, seitdem wir aus einer regelbasierten in eine machtbasierte Ordnung übergewechselt sind, also spätestens seit dem offenen Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine. Gezeigt hat sich, dass das System der Verhandlungen in vielerlei Hinsicht eine Einladung ist, die andere Seite zu betrügen und an der Nase herumzuführen, und das war gerade mit dem Iran eine durchgängige Erfahrung. Dazu gehört freilich auch, dass unter Bedingungen, dass es keinen Hüter des Völkerrechts gibt beziehungsweise die Vereinten Nationen als solche de facto keine Rolle spielen, der Verweis auf das Völkerrecht keine große politische Relevanz mehr hat“. Für atomwaffenfreie Europäer wie Deutschland könnte das heißen, dass sie eine gemeinsame nukleare Abschreckungskomponente brauchen, wenn sie international politisch eine Rolle spielen wollen und nicht, wie das ja jetzt auch in der jüngsten Krise mit dem Iran der Fall gewesen ist, nur dabeistehen, kommentieren und so tun wollen, als seien ihre Kommentare bereits Handlungen (vergleiche dazu Herfried Münkler am 25.06.2025 im Gespräch mit Harald Stutte: https://www.rnd.de/politik/herfried-muenkler-mit-seiner-mad-man-strategie-landete-trump-einen-big-point-5RMUEREGGJDOVFBOSWFV4TKS4E.html).

Nach Habeck reißt sich gerade eine Minderheit „die Welt unter den Nagel und ent-grenzt Macht, weil das ihre Macht ist. Und es bringt nichts, dagegen mit moralischer Impertinenz anzuarbeiten.“ Entscheidend sei letztlich, was für Deutschland und Europa daraus folge, wenn das Völkerrecht keine Rolle mehr spiele und in den USA viele den Volkswillen über dem Recht sehen … Außer uns interessiert sich keine Sau dafür, wie wir das finden. Die Starken in der Welt definieren derzeit, was geschieht. Und zu den Starken gehören wir nicht“ (Robert Habeck, „Außer uns interessiert sich keine Sau dafür, wie wir das finden“ (In: Süddeutsche Zeitung Nummer 143 vom 25. Juni 2025, Seite 10).

Gleichwohl macht sich Haltern für das rechtsbasierte System der europäischen Integration trotz seiner starken Ambivalenzen stark. Ob und wie es der Europäischen Union gelingen kann, dem Einbruch atavistischer politischer Gewalt zu begegnen und den Aufstieg populistischer Kräfte in den Mitgliedsländern einzudämmen, wird auch daran liegen, wie die von Haltern mit der Metapher einer Doppelhelix eindrücklich beschriebene paradoxe Natur der europäischen Integration weiterentwickelt werden kann. „Wenn es zutrifft, dass Geopolitik auf den drei Säulen Macht, Territorium und Narrativ aufruht, sind die Defizite der europäischen Integration unübersehbar. Nicht Macht, sondern deren Relativierung durch das Recht … steht im Zentrum der Integration. Territoriale Integrationsgrenzen sind von Beginn an schemenhaft gewesen und haben sich im weiteren Verlauf immer wieder verschoben, ohne dass die Gründe hierfür immer plausibel, geschweige denn zwingend waren. Narrative von sich selbst hat die Union nie einsichtig glaubhaft machen können … Natürlich sind die Kategorien von Macht, Territorium und Narrativ auch in Europa nicht ganz verschwunden … Auch die bewehrte Territorialgrenze ist alles andere als unwichtig geworden. Sie manifestiert sich insbesondere in Krisen: als Außengrenze in der Flüchtlings-, als Binnengrenze in der Coronakrise. Politische Narrative dazu, wer ›wir‹ sind, wer ›wir‹ waren und sein wollen, sind … in den Mitgliedstaaten aufgehoben, die nach wie vor die politische Heimat der Bürger sind und den wichtigsten sozialen Vorstellungsraum für individuelle und kollektive Identität zur Verfügung stellen. Keine supranationale post-histoire-Haltung der Union, die sich über Vernunft legitimiert, über den Markt operiert und über den Output rechtfertigt, kann den sozialen Vorstellungsraum von Staatlichkeit, die sich auf souveräne, unmittelbar vom Volk abgeleitete Herrschaftsmacht und damit einhergehende politische Identität verlassen kann, ganz schließen“ (Ulrich Haltern S. 10 f.).

Die miteinander verschraubten nationalen und europäischen Rechtssysteme der Europäischen Union eröffnen einen Möglichkeitsraum, „der Platz für Zweifel, aber auch für Alternativen hat. Diese Möglichkeiten sind echte politische Möglichkeiten und erfordern echte, vielleicht manchmal auch harte politische Entscheidungen … Eigentlich ist es ja genau das, was wir uns von der Union immer wünschen …: einen Ort echter politischer Auseinandersetzung, an dem Demokratie abseits staatlicher Strukturen getestet und praktiziert werden kann, an dem Probleme möglichst gut gelöst werden und an dem viele Stimmen Gehör finden und nicht ohne Einfluss bleiben“ (Ulrich Haltern, Seite 240).

Diesen politischen Selbstverordnungsraum der Bürger ernst zu nehmen, ist kein Fehler. „Nicht nur können sich soziale Vorstellungsschemata in Windeseile ändern. Auch wenn sie dies in absehbarer Zeit nicht tun, ist so gut wie nichts in Stein gemeißelt. Wenn dieses Buch eines gezeigt hat, dann wohl die Tatsache, dass der Status quo alles andere als ein zementierter Schlussstein ist, sein will oder auch nur sein könnte. Zum einen ist er beständig in Bewegung und belagert, zum anderen ist er spannungsgeladen und läuft daher in politische Probleme.

Die Bewegung und Belagerung des Status quo resultieren zu einem guten Teil gerade aus der kulturellen Grundkonstellation. Die Notwendigkeit des Austarierens führt zu einem ganz und gar liquiden Status quo, von dem man sich schon fragen kann, ob er überhaupt diese Bezeichnung verdient. Dieses Austarieren findet themen- und funktionsübergreifend auf einer Skala statt, die von Einheit bis zu Differenz reicht. Welcher Punkt auf dieser Skala der richtige ist, hängt natürlich davon ab, wovon man redet und zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen man das tut. Für die Vergangenheit der europäischen Integration hat dieses Buch das gezeigt; für die Zukunft eröffnet sich der Integration dadurch weiterhin ein enormes Entwicklungspotenzial.

Bewegung wird aber auch jenseits der kulturellen Grundkonstellation erzwungen, die ihre wesentlichen Unterscheidungen im Inneren – zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und zwischen den Mitgliedstaaten und der Union – besitzt. Die Verortung der Union in einem erstarkten geopolitischen Globalkontext von Wirtschafts- und Militärmacht dagegen besitzt ihre wesentliche Unterscheidung zwischen dem Integrationsprojekt als solchem und dem Rest der Welt. Dadurch erhalten viele Themen in ihrer Außendimension ein ganz neues Gewicht, das im Austarierungsprozess zur Geltung kommt und dem nach innen gerichteten, auf die europäischen Binnengrenzen fixierten Blick eine nach außen, auf das geopolitische Gewicht der Union und der sie leitenden politischen Ideen gerichtete Perspektive hinzufügt. Die Dringlichkeit einer solchen Perspektive steht nach der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus außer Frage“ (Ulrich Haltern, Seite 240 f.).

Auf die durch die veränderte geopolitische Situation anstehenden Entscheidungen werden „die Staaten mit einer hybriden Emanzipation von Entscheidungsmacht auf die europäische Ebene reagieren; dort erfährt diese Macht massive Verstärkung, löst sich teilweise vom Staatenwillen und löst eine Ambivalenz aus, die sich in Spannungen äußert. Die Zukunft sieht nicht wie die Vergangenheit aus, aber sie wird sich wohl in der Form der Vergangenheit entfalten. Das ist ambivalent, aber auch resilient: Die Methode, wie sich wirkliche Widersprüche lösen, liegt in einer Form, in der sie sich bewegen können; der wiederholt erfolgreiche Umbau des europäischen Tankers auf hoher, stürmischer See beglaubigt dies praktisch. Natürlich birgt diese Form auch Risiken, nämlich immer dann, wenn die Widersprüche im Vergleich zu den Herausforderungen, die die sich stark verändernde geopolitische Weltlage mit sich bringt, zu großen Raum einnehmen können. Mit der zunehmenden Einsamkeit Europas werden die Erwartungen der Europäer an sich selbst auch zunehmend enttäuscht werden. Diese Enttäuschung kann destruktive, aber auch konstruktive Potenziale freisetzen. Dennoch wird sich an dieser Form so lange nichts ändern, wie sich die Grundkonstellation der unterschiedlichen politischen Existenzräume nicht ändert. Dafür wiederum gibt es jedenfalls zur Zeit keine belastbaren Hinweise, eher im Gegenteil. Wie sich dies nach weiteren vier Jahren Trump-Regierung darstellt, bleibt abzuwarten. Aber das Politische ist weder das Moralische noch das Vernünftige; wir sind, wer wir sind, und der Staat wird als eigener Vorstellungsraum politischer Vergemeinschaftung nicht verschwinden. Er wird sich aber auch nicht des europäischen Gemeinsamen entledigen“ (Ulrich Haltern, Seite 247).

ham 25. Juni 2025

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