Rotpunktverlag, Zürich, 2024, ISBN 978-3-03973-021-6, 192 Seiten, 1 s/w Abbildung, Hardcover, gebunden, Format 20,8 x 12,9 cm, € 25,00

Nach dem Schweizer Psychologen Jürg Frick unterschätzen die meisten Menschen den Einfluss, den die Geschwistererfahrungen in der Kindheit und Jugendzeit auf sie gehabt haben (vergleiche dazu Jürg Frick, Geschwister und ihre Bedeutung. Ein kurzer Überblick. In: https://www.eltern-bildung.at/expert-inn-enstimmen/geschwister-und-ihre-bedeutung-ein-kurzer-ueberblick/). Geschwister beeinflussen und prägen das Fühlen, Denken und Verhalten ein Leben lang. Sie sind in der Regel die dauerhaftesten und längsten Beziehungen im Leben eines Menschen. Mit Geschwistern sind unzählige Erlebnisse, Gefühle und Reaktionsmuster und sogar den Charakter prägende Erfahrungen verbunden. Man kann, um Paul Watzlawick „zu variieren, kaum eine Nichtbeziehung zu Geschwistern haben“ (Jürg Frick a. a. O.).

Der am 18. Mai 1951 in Beinwil am See geborene und heute in Rheinfelden im Aargau lebende Schweizer Soziologe, Ungleichheits-, Konflikt- und Kooperationsforscher Ueli Mäder weiß dagegen, was er an seinem später Marco genannten Bruder Markus Wilhelm Mäder gehabt hat. Marco war sein Vorbild. Er stand ihm lange am nächsten und ist ihm heute noch sehr nah (vergleiche dazu und zum Folgenden Ueli Mäder S. 7 ff.). 

Marco kam am 20. April 1947 in Burg im aargauischen Wynental als viertes Kind einer achtköpfigen Familie zur Welt. Er war ein und galt als Sonntagskind, dem alles leicht gefallen ist. Er besuchte die Grundschulen in Frauenfeld und Sissach und die Mittelschule in Liestal, verweigerte den Militärdienst und kam dafür trotz hochrangiger Verteidiger ins Gefängnis. Er spielte Handball in der Nationalliga, studierte Theologie in Basel, bekam von zwei Professoren schon vor dem Studienabschluss ein Promotionsangebot, aber ließ die Abschlussprüfung aus.Danach nahm er Hilfsarbeiten an, arbeitete ähnlich wie sein Vater ohne eigentliche Ausbildung im Sozialbereich, gründete eine Agentur und schrieb Texte und Geschichten. Zugleich trank er immer mehr Alkohol und ruinierte seine Gesundheit. Zweiundvierzigjährig kehrte er nach Sissach zurück, kümmerte sich um die betagte Mutter und streifte durch Wälder und Kneipen. Am 14. April 2013 hat ihn seine damalige Freundin Hedwig Kiràly tot in seiner Wohnung aufgefunden. Laut ärztlichem Befund war er seit dem 13. April 2013 tot. Er liebte die Natur und pflegte einen manchmal feinen Humor, haderte aber mit dem Weltgeschehen und verzagte. Sein Sterben warf für den jüngeren Bruder Ueli Fragen auf, auf die er in seiner 2024 erschienenen sehr persönlich gehaltenen Biografie, ›Mein Bruder Marco‹ in der Form von nachgetragenen Zwiegesprächen Antworten sucht. 

„Statt das Schöne zu genießen, hieltest du dich oft an ziemlich erhabene Vorstellungen und keusche Ideale. Statt Aggressionen direkt auszuleben, richtetest du sie lieber gegen dich. Den früher übermäßig verteufelten Alkohol schüttest du inzwischen literweise und selbstzerstörerisch in dich hinein. Dein Zerfallsprozess zeigt sich immer deutlicher. Darfst du dich nicht wirklich gern haben?

Für andere bist du früher oft zurückgestanden. Und für den lieben Gott erst recht? Mit dem Infragestellen des Ideals scheint’s nun auch dich weniger zu geben. Das beweist du dir täglich. Wo ist dein eigener Wille? Wie lange lässt du zu, dass sich kaum etwas verändert? Früher warst du überaus aktiv. Vielleicht entsprach dein innerer Antrieb einem Befehl von oben, vom Himmel, vom Über-Ich. Und jetzt gibst du dem Es freien Lauf? Was mit Freiheit wenig zu tun hat. Im Gegenteil. Aber das weißt du ja.

Du hast viel Verlogenes durchschaut und trotzdem übernommen. Du betrügst dich, wenn du nicht bereit bist, das weiter aufzudecken. Im eingehenden und manchmal schmerzlichen Disput mit anderen. Oder glaubst du denn, dich überschätzend, alles selber leisten zu können? Wie Jesus, der übers Wasser gelaufen sein soll. Willst du dich am eigenen Schopf aus der sumpfigen Sucht ziehen? Der Beweis steht schon lange aus. Sind Resignation und mangelnder Selbstwert etwa die Kehrseite der Omnipotenz?“ (Ueli Mäder S. 110).

Angelehnt an die von Annemarie und Lucius Burkhardt entwickelte Spaziergangswissenschaft präsentiert Ueli Mäder abschließend dreizehn thesenartige Folgerungen, die er von erinnerten Gesprächsfetzen aus seinen Spaziergängen mit Marco herleitet:

Erste Folgerung: Deine Alkoholabhängigkeit reproduziert gesellschaftliche Suchtstrukturen und führt eine tabuisierte familiäre Tradition weiter. Du hast … die stoffliche Wirkung unterschätzt und deine Resilienz überschätzt. Du hast dich selbst überhöht und mystifiziert. Und du hast die Randständigkeit idealisiert, die dir bei einzelnen Alkis imponiert hat …

Zweite Folgerung: Deine Startbedingungen waren recht günstig, gesellschaftlich und familiär. Sie halfen dir, in mehreren Bereichen zu reüssieren. Das weckte hohe Erwartungen und verstärkte den Mangel, wütend sein und Fehler machen zu dürfen. Du musstest immer nett und gut sein, ohne wirklich gut sein u dürfen. Erfolge waren in unserer Familie erwünscht und verpönt.

Dritte Folgerung: Du sträubtest dich früh gegen biedere Anständigkeit und militärische Ordnung. Unsere Mutter, selbst Hilfsarbeiterin, verkörperte … das aufstiegsorientierte Kleingewerbe, unser Vater den bäuerlichen Abstieg und das Proletariat. Randständige wirkten auf dich echt, lebendig und hilfsbedürftig. Mit ihnen fühltest du dich wohl. Für sie … wolltest du dich engagieren … Aber du hättest methodische Grundlagen der Sozialen Arbeit und psychoanalytische Zugänge eingehender einbeziehen müssen …

Vierte Folgerung: Das Leiden hat es dir angetan. Der steinige, der schmale Weg führt zum Licht. Das war dir von Kindesbeinen an so vorgegeben. Aber Vieles lief dann rund. Größere Stolpersteine und existentielle Herausforderungen fehlten. Mehr Einsatz für andere … bot sich als Ersatz an …

Fünfte Folgerung: Der philosophische Blick in die Sternenwelt öffnete deinen Horizont. Er unterstützte dich dabei, den absolut und abstrakt gesetzten Sinn zu relativieren und in einen konkreten sozialen Sinn zu verwandeln. Das blieb für dich stimmig und sinnig, aber schwierig. Denn mit dem Zulassen der Endlichkeit und Vergänglichkeit brachen Gewissheiten weg, die vordergründig mehr Sicherheit vermittelten.

Achte Folgerung: Zu deinen beliebten Orten gehörten Wälder, Kneipen und der Friedhof, die Voliere und deine dunkle (Wohn-)Höhle. Sie waren für dich … eine kleine Gegenwelt. Anfänglich relativ gut angepasst lebend, setztest du zunehmend eigene Akzente, freundlich vermittelt, aber inhaltlich eigenwillig. Das trug dir viel Anerkennung und harsche Kritiken ein, die dich, nebst Todesfällen und politischen Enttäuschungen, stärker trafen als eingestanden. Du konsumiertest nun, warum auch immer, mehr Alkohol. Nachlässigkeiten nahmen zu. Und du radikalisiertest dich bis zur Verweigerung  …

Neunte Folgerung: Dein gesellschaftliches Verständnis war stark humanistisch und friedenspolitisch geprägt. Persönliche Enttäuschungen hatten mit deiner … Annahme zu tun, mit guten Argumenten und Taten auch Leute überzeugen zu können, die ihr Heu auf einer ganz anderen Bühne lagern … In wohlwollendem Klima sozialisiert und in jüngeren Jahren harmonisch orientiert, reagiertest du dann etwa dünnhäutig oder eben feinfühlig.

Zwölfte Folgerung: Erich Fromm verknüpft vielfältige Prägungen: vererbte, im Unterbewusstsein schlummernde, gesellschaftliche, familiäre und persönliche. Er beschreibt die dynamische Dialektik zwischen Struktur, Kultur, Psyche und akzentuiert dabei klar die gesellschaftlichen Einflüsse. Das überzeugte dich und spricht auch dafür, deine Sucht nicht zu individualisieren, sondern in diesem Kontext zu diskutieren, ohne dich und uns als Familie aus der Verantwortung zu nehmen. Aber solange wir gesellschaftlich und privat immer mehr haben und besitzen wollen, bleiben uns nach Fromm auch Kriege, soziale Gegensätze und Suchterkrankungen erhalten.

Dreizehnte Folgerung: Dietrich Bonhoeffer symbolisierte für dich ein Engagement zwischen Leben und Tod. Solche Biografien standen bei uns zu Hause hoch im Kurs. Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten faszinierten. Obwohl unsere Eltern eigentlich stets das ›Einfache und Gewöhnliche‹ postulierten. So diente auch Bonhoeffer als Vorbild. Es verlangte existentielle Widerständigkeit und stellte deine hehren Anstrengungen in den Schatten. Vielleicht verstärkten sich so auch Gefühle, kaum zu genügen. Sie gehören zur Kehrseite des Begehrens, sich über andere zu erheben“ (Ueli Mäder S. 155 ff.) 

Mäders aufrüttelnd direkt geschriebene Biografie seines Bruders Marco ist zugleich auch ein „Requiem auf die 68er, die sich treu bleiben wollten und den Preis dafür mit Berufsverboten bezahlt haben (vergleiche dazu das instruktive Interview von Peer Teuwsen ⟩Der Soziologe Ueli Mäder über seinen toten Bruder: «Sein Trinken hatte auch etwas Revoltierendes»⟨ vom 16.3.2024 in der NZZ: https://www.nzz.ch/feuilleton/warum-du-marco-der-soziologe-ueli-maeder-ueber-seinen-toten-bruder-ld.1821686).

ham, 30. März 2024

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