Verlag C.H.Beck, München, 2022, ISBN 978-3-406-78235-0, 400 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 22 x 14,8 cm, € 32,00
Als meine Tante Johanna in den 1950er Jahren in die USA ausgewandert ist, wurde sie von der ganzen Verwandtschaft auf den Nordheimer Bahnhof begleitet. Sie hat sich in Amerika eine neue Existenz aufgebaut, dort geheiratet, den polnisch konnotierten Namen Dempski getragen und einen Sohn bekommen. Bei einem Besuch in den 1960er Jahren haben wir sie auf dem Flugplatz in Stuttgart abgeholt. Meine Cousine Inge ist etwas später nach England ausgewandert. Auch sie hat geheiratet und hieß dann Toach. Unser in Baotou geborener Künstlerfreund GAMA ist in den ersten sieben Jahre seines Lebens in der baumlosen Graslandschaft der inneren Mongolei mit den Hunden und Tieren seiner Eltern aufgewachsen und in einem Zelt groß geworden. Als er ins Schulalter kam, haben seine Eltern ihr Nomadenleben aufgegeben und ihn in die Schule geschickt. Damals sah er zum ersten Mal einen Baum und einen fest gebauten Raum aus Stein. Sein Kunstlehrer hat sein Zeichentalent entdeckt und gefördert. Kurz vor dem Diplom an der Central Art Academy Beijing ist GAMA auf Kataloge von Gerhard Richter und Georg Baselitz gestoßen und hat verstanden, dass Kunst kein Kopieren vorhandener Bilder, sondern eine Form der Freiheit ist. Von da an wollte er nach Deutschland. Das Geld für seine Reise hat er sich mit dem Malen von in Peking gefragten Bildern verdient. In Freiburg im Breisgau hat er Deutsch gelernt; in Karlsruhe konnte er in der Klasse von Gustav Kluge weiterstudieren. Heute lebt er als freier Künstler in Berlin. Der in Saragossa geborene Zeichner, Maler und Bildhauer Victor Mira kam über Madrid, Barcelona und Pamplona in die Vereinigten Staaten und nach München. Seine letzten Jahre hat er zwischen Barcelona und Breitbrunn am Ammersee verbracht.
Im Kreis meiner Verwandten war es nach dem Zweiten Weltkrieg eher ungewöhnlich, seinen Herkunftsort zu verlassen. Für Künstler schien genau dies angesagt. Heute gehört Migration zur Normalität. Wir haben gelernt, dass Migration eine anthropologische Konstante ist. Nach dem Statistischen Bundesamt lebten 2020 281 Millionen Menschen weltweit außerhalb ihres Geburtslandes, das entsprach 3,6 % der Weltbevölkerung (vergleiche dazu und zum Folgenden https://de.statista.com/themen/8370/migration-und-flucht-weltweit/). 2022 waren 108,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Nach der Neuen Zürcher Zeitung haben zwischen Januar und November 2023 355 300 Menschen versucht, auf irregulärem Weg nach Europa zu kommen (vergleiche dazu https://www.nzz.ch/international/hoechste-migrationszahlen-seit-20162015-besonders-stark-steigen-die-zahlen-auf-den-kanaren-ld.1771008).
Wenn der 1959 in Wolfach im Schwarzwald geborene und heute an der Universität Bielefeld transnationale Beziehungen und Entwicklungs- und Migrationssoziologie lehrende Thomas Faist in seinem Opus Magnum Exit darüber nachdenkt, warum Menschen aufbrechen, wählt er mit seinem Titel den Überbegriff für sämtliche Formen von Ab-, Rück-, Zwangs-, Arbeits- und Heiratsmigration und damit den Überbegriff von Wanderung. Das Exil ist Teil dieser Formen und bedeutet in der Regel, dass Menschen vertrieben werden und in einem anderen Land eine Bleibe finden. Migration ist eine von mehreren Möglichkeiten, Verfolgung, Gewalt und der dauerhaft ungleichen Verteilungen wichtiger materieller und symbolischer Ressourcen wie Einkommen und sozialem Status zu entkommen und auf bessere Lebensmöglichkeiten zuzugehen.
„Prinzipiell gibt es drei Antworten auf sich verschlechternde Bedingungen in Gruppen, Organisationen und Staaten: Abwanderung (Exit) sowie politischer Widerspruch (Voice) oder Loyalität (Loyality) zur jeweiligen Organisation, Gruppe oder zum betreffenden Staat. Je geringer Loyalität und damit ein Zugehörigkeitsgefühl ausgeprägt ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für Abwanderung und desto geringer die Chance auf Widerspruch“ (Thomas Faist S. 9). Exit ist diejenige Option, die für Einzelne und Gruppen am schnellsten umsetzbar und bei Verfolgung den Schutz von Leib und Leben verspricht und ist damit eine rationale Wahl.
Die gegenwärtigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ungleichheiten zwischen den Herkunftsländern im globalen Süden und den Zielländern im globalen Norden erinnern nach Faist zwar an die sozialen Verwerfungen im Europa des 19. Jahrhunderts. Aber die damals durch den sich entwickelnden Sozialstaat gefundenen nationalen Antworten lassen sich nicht mehr wiederholen. Heutige Antworten müssen auf transnationaler Ebene gefunden werden, weil Ungleiches spätestens seit dem Kolonialismus und Imperialismus auf der globalen Ebene aufeinander trifft. Beim Konflikt zwischen globalem Süden und globalem Norden handelt es sich nach Faist in zweierlei Hinsicht um eine transnationale Frage: „Erstens ist es eine grenzübergreifende und in Teilen weltweite soziale Frage. Im Hinblick auf Kommunikation, Transport und Produktion ist die heutige Gesellschaft eine globale Gesellschaft bzw. eine Weltgesellschaft. Die Probleme, auch in Bereichen wie Migration, sind zwar grenzüberschreitend, die Bearbeitung aber findet häufig nicht nur auf internationaler, sondern auch auf nationaler oder lokaler Ebene und zwischen Staaten etwa durch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Organisationen von Migrant:innen statt. Politische Entscheidungen und verbindliche rechtliche Regulierungen sind zumeist nationalstaatlich eingehegte Prozesse“, auch wenn staatliche Autorität teilweise an supranationale Institutionen wie die Europäische Union oder die Westafrikanische Wirtschaftsunion delegiert wird (Thomas Faist S. 15). „Staaten verpflichten sich zudem in ausgewählten Politikbereichen durch die Ratifizierung von Konventionen zur Einhaltung bestimmter Normen, so etwa im Politikfeld Flucht und Asyl in Form der Genfer Flüchtlingskonvention. Zweitens ist die soziale Frage dadurch transnationalisiert, dass Migrant:innen und ihre Organisationen aktiv über Grenzen hinweg engagiert sind, etwa [durch] finanzielle Rücküberweisungen, die Armut lindern können oder Ausgaben für Bildung und Gesundheit abdecken. Der Fokus auf grenzüberschreitende Migration verdeutlicht, wie eine durch Ungleichheiten charakterisierte soziale Ordnung die Lebensbedingungen und politischen Konflikte der heutigen Welt prägt“ (Thomas Faist a. a. O.).
In seiner Studie entwickelt Faist diese Perspektive in drei Schritten. Zuerst steht der Exit, also das transnationale Migrationsgeschehen im Kontext der Verschiedenheit von Gruppen, Staaten und Regionen im Mittelpunkt. Im zweiten Schritt geht es um den Zusammenhang von kultureller Verschiedenheit und sozialen Ungleichheiten. Der dritte Teil erläutert die transnationalisierte soziale Frage, das heißt einen Zustand, in dem soziale Ungleichheiten rund um Migration von politischen Konflikten begleitet werden. Die im letzten Kapitel aufgestellten Thesen wollen das Nachdenken darüber anregen, wie eine faire Ordnung aussehen könnte, die nicht primär die Immigrationsländer und Teile ihrer Bevölkerung bevorteilt. Faists Studie schließt mit einer Reflexion über die Bedeutung von Grenzen für die soziale Ordnung.
Demnach erlauben Grenzen dem Menschen, die Welt zu vermessen und sich zu orientieren. Sie haben manifeste Konsequenzen. Diese Folgen werden in Prozessen wie kultureller Homogenisierung und Versicherheitlichung, aber auch einer Expansion von Menschenrechten und einer Akzeptanz von Vielfalt sichtbar. Faist geht mit Georg Simmel davon aus, dass der Mensch in seiner anthropologischen Grundbestimmung ein Grenzwesen ist. „Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Dabei kommt räumlicher und sozialer Mobilität eine entscheidende Rolle zu. Der Mensch verbindet, was geteilt ist, und teilt aber auch, was verbunden ist. So verbinden Migrant:innen und relativ immobile Angehörige in transnationalen sozialen Räumen ihre Lebenswelten über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Nach dem vorliegenden Wissen findet dabei aber vor allem [innerstaatliche] Mobilität statt, von einem großen Exodus kann bisher angesichts der massiven Realität relativer Immobilität nicht die Rede sein … Verbinden und Trennen bestimmen die Dynamik von Grenzziehungsprozessen. Damit ist eines der Hauptcharakteristika der von Menschen geschaffenen Grenzen ihre teilweise Durchlässigkeit. Deshalb sind Wälle und Zäune, die Menschen gewaltsam an Mobilität und Migration hindern, in diesem Sinne keine Grenzen. Ihnen fehlt das Merkmal der teilweisen Durchlässigkeit. Ohne diese Permeabilität lässt sich nicht von Grenzen sprechen. Grenzen sind so gesehen auch integraler Bestandteil von transnationalen sozialen Räumen, die quer zu Staatsgrenzen liegen und durch die Praktiken von Mirgrant:innen und anderer Beteiligter wie Staaten und zivilgesellschaftlichen Organisationen geschaffen werden …
Eine Re-Orientierung des Verständnisses von Grenzen ist eine Voraussetzung für die Entwicklung von Alternativen zur gegenwärtigen sozialen Orientierung der Grenze und damit von grenzüberschreitender Migration und Mobilität. Fundamental ist dabei die Annahme, dass Grenzen überhaupt erst die (friedliche) Koexistenz von zwei oder mehr sozialen Einheiten erlauben. Sie ist daher fester Bestandteil jeglicher historisch gewachsener sozialen Ordnung. Eine zentrale Voraussetzung für diese Funktion von Grenzen ist nun, dass die Akteure ungefähr den gleichen Status besitzen. Dieses letzte Kriterium ist in der real existierenden Welt in der Regel nicht gegeben; schon gar nicht im Kontext der Beziehungen zwischen Zielländern und Herkunftsländern oder zwischen Migrant:innen und Einheimischen, die durch mannigfaltige soziale Ungleichheiten zwischen und innerhalb dieser Kategorien charakterisiert sind. Allerdings hilft ein gehaltvoller Begriff von Grenze, die Debatten über Exit und Widerspruch zu hinterfragen und Optionen von Grenzpolitik auszuloten: Grenzen können auch als permeable Membran gedacht werden. Als Resultat einer solchen Re-Orientierung des Verständnisses von Grenzen wäre von einer konzeptuellen Grenzverschiebung zu sprechen, die jeglicher Reform von Migrationspolitik vorausgehen müsste“ (Thomas Faist S. 328 ff.).
Dass Remigration zum Unwort des Jahres 2023 gekürt werden würde, konnte Thomas Faist 2022 noch nicht wissen. Remigration war für ihn eine wissenschaftlich neutraler Begriff für die Rückkehr von etwa einem Drittel der zwischen 1951 und 1960 nach Amerika 580 000 ausgewanderten Deutschen und die Rückkehr von 90 Prozent der italienischen Arbeitsmigranten der 1960er und 1970er Jahren in ihr Heimatland. Zum Unwort des Jahres ist Remigration deshalb geworden, weil es in der Identitären Bewegung, in rechten Parteien sowie weiteren rechten bis rechtsextremen Gruppen zu einem Euphemismus für die Forderung nach Zwangsausweisung bis hin zur Massendeportation von Menschen mit Migrationsgeschichte geworden ist. Man kritisiert die Verwendung des Worts, weil es im vergangenen Jahr als „rechter Kampfbegriff, beschönigende Tarnvokabel und ein die tatsächlichen Absichten verschleiernder Ausdruck gebraucht“ worden ist (vergleiche dazu https://www.ndr.de/kultur/buch/Remigration-ist-Unwort-des-Jahres-2023,unwortdesjahres140.html und die Correctiv-Recherche ›Neue Rechte. Geheimplan gegen Deutschland unter https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/).
ham, 16. Februar 2024