C. Bertelsmann Verlag, München, 2019, ISBN 978-3-570-10358-6, 255 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 21,8 x 14,5 cm, € 20,00 (D) / € 20,60 / CHF 28,90
Tagungen mit dem Titel ›Vorbereitung auf den Ruhestand‹ haben in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Standardprogramm der Evangelischen Akademie Bad Boll gehört. Sie waren stets gut besucht und wer das Glück hatte, an einer dieser Tagungen teilnehmen zu können, hat seinen Übergang in den Ruhestand wesentlich leichter geschafft. Der für dieses Angebot zuständige Tagungsleiter Pfarrer Hermann Schäfer hat den Teilnehmern seiner Tagungen eindrücklich empfohlen, ihren Ruhestand rechtzeitig ins Auge zu fassen, ihn sorgfältigst vorzubereiten und präzise abzuklären, was in den ersten Jahren nach dem Arbeitsleben noch wichtig sein und angegangen werden soll. Wer 1970 mit 65 Jahren in den Ruhestand gegangen ist, konnte als Mann statistisch gesehen mit einem durchschnittlichen Lebensalter von 70,64 Jahren rechnen. 2010 waren es knapp 10 Jahre mehr. Im Vergleich der Bundesländer haben heute Frauen und Männer, die in Baden-Württemberg geboren wurden, mit 84,1 und 79,7 Jahren die höchste Lebenserwartung bei der Geburt. Die Lebenserwartung der Männer und Frauen gleichen sich zunehmend an (vergleiche dazu die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 5. November 2019: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/11/PD19_427_12621.html).
Der 1942 in Straßburg geborene renommierte Journalist, Fernsehmoderator und zeitweilige Lebensgefährte der späteren Kanzlergattin Doris Köpf Sven Kuntze hat sein Nachdenken über den Ruhestand erstmals 2008 mit seiner mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichneten Reportage ›Alt sein auf Probe‹ öffentlich gemacht und es in seinem inzwischen in der 9. Auflage vorliegenden Besteller ›Altern wie ein Gentleman: Zwischen Müßiggang und Engagement‹ aus dem Jahr 2011 weiter ausgearbeitet. Mit knapp 70 hat er damals damit rechnen können, dass er noch vielleicht 10 oder 15 gute Jahre vor sich hat. Aber dann wurde ein Gehirntumor entdeckt und 2013 operativ entfernt. Zwischenzeitlich haben sich auch bei ihm die erwartbaren Altersbeschwerden eingestellt. Kuntze scheut sich nicht, davon zu erzählen, dass es für ihn deutlich schwieriger geworden ist, auf einem Fuß in die Beine einer langen Hose zu schlüpfen und er sich deshalb besser dazu setzt. Er nimmt mit leicht resignativen Bedauern zur Kenntnis, dass er die meisten Bücher seiner Bibliothek nicht mehr in die Hand nehmen und noch einmal lesen wird. Er steht dazu, dass im Alter die Vergangenheit wichtiger wird als die Zukunft, dass Alte geschwätziger werden und dass das Treppensteigen zunehmend Mühe macht.
Sein knapp zehn Jahre nach seinem Bestseller erschienenes Buch ›Alt sein wie ein Gentleman‹ kann für ihn kein Ratgeber sein, weil jedes Leben individuell gelebt worden ist, je eigene Fragen aufgeworfen hat und eigene Antworten verdient. Er beschränkt sich deshalb darauf, altersweise und informiert davon zu erzählen, wie es ihm und einigen Freundinnen und Freunden aus seiner Alterskohorte mit dem Altern ergeht. Beim Schreiben waren ihm folgende Fragen wichtig: „Was ergibt ein Leben? Welche Herausforderungen sind unerlässlich? Welche Rolle spielen Hoffnung, Glaube, Wissen? Was hat es mit der Altersradikalität auf sich? Braucht es die? […] Was bewirken die Fortschritte in der Medizin? Gibt es Frieden mit dem Altern? […] Wohin geht die Reise? Auf- oder Schiffbruch? Kann sich die Gesellschaft unser Altern noch leisten? Wo liegt das Jenseits? Das Lebensende ist unvermeidbar, was aber hat es mit dem Sterben auf sich? Wohin mit der Restlibido?“ (Sven Kuntze S. 21 f.). Er gesteht, dass er beim Nachdenken über das Leben in seiner letzten Phase Kostbarkeiten wie die Begabungen des Menschen zur Liebe und zum Mitleid, zum Lachen und zum Weinen, seine Befähigung zur Musik, Schrift, Kunst, zum Genuss und Vergessen und sein Verlangen nach Freiheit und Selbstbestimmung neu entdeckt hat.
„Viele der Begabungen sind unnötiges, wenngleich wundersames Beiwerk, das im Hochbetrieb ums Fortbestehen keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte. Es ist nach den Regeln der Evolution ohne jeden Sinn, es sei denn, seine tiefere Bedeutung bestünde darin, unserem Leben einen Sinn zu geben, den das bare Überleben nicht zu stiften vermag. Aber woher kommt die Idee des ›Sinnhaften‹, das sich durch Begabungen herzustellen weiß? Woher kommt der Zufall als Gebieter über unser Leben? Wer hat die Mechanik der Mutation eingerichtet? Sie selbst kann es nicht gewesen sein. Wir wissen es nicht“ (Sven Kuntze S. 23). Kuntze betrauert, dass mit dem Verlust der christlichen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod das Alter klarer und härter wird. „Beim Nachdenken über das Alter und die eigene Zukunft begreift man nebenbei, welch ungeheurer Schatz an Entlastung, Zuversicht und Geborgenheit, vermittelt durch Glaube, Tradition und Überlieferung, mit Beginn der Aufklärung entsorgt wurde, ohne dass irgendetwas an seine Stelle getreten wäre. Im Gegenteil: Vor unseren Augen werden gerade die letzten Reste beseitigt […]. Der Verlust der christlichen Hoffnung war mehr als der ›Verzicht‹ auf überholte Vorstellungen, die aufgeklärter Prüfung nicht standhielten. Die Aussicht auf ein Leben jenseits des Todes und Gehör im Gebet waren Grundlage für das kostbare Gefühl der Geborgenheit, das uns verloren gegangen ist. Das sind bedeutende Verluste an ursprünglichen Bestandteilen der Conditio humana. Sie entstammen jenen Schichten unseres Daseins, die wir zwar beschreiben können, die aber dem wissenschaftlichen Zugriff, dem es auf eindeutige Kausalität ankommt, kaum zugänglich sind. Der Wert unserer Welt und unser Dasein verlieren an Sicherheit und Zufluchtsorten. Das Alter wird klarer und härter“ (Sven Kuntze S. 90 f.)
„Wer vom Alter redet, darf über Haare nicht schweigen. Wer noch welche hat, sollte sie kurz tragen […]. Wer sich lächerlich machen will, ist gut beraten, sich die Haare zu färben und schwarze Locken zu schneeweißem Bart zu tragen, in der festen Überzeugung, dass es niemand bemerkt […]. Für Jeans braucht es Steißfett in ausreichender Menge, andernfalls verzieht sich der blaue Hosenboden zu einer kläglichen Grimasse. Steißfett vergeht im Alter wie Schnee im Frühling, und plötzlich sind die letzten Reste für immer dahin […]. Den Hals verdeckt ein leichter Foulard, als ob ein freundlicher Windstoß ihn zufällig dorthin geweht hätte. Er kann in der Oper dortbleiben und wird seine Geheimnisse nicht preisgeben […]. Was ist mit dem Handrücken? Handschuhe im Sommer sind verdächtig, Hände in Hosentaschen ungehörig, also besser ohne Gegenwehr akzeptieren. Auch das Körpergewicht verlangt nach einem stets gefährdeten Gleichgewicht. Zu viele verlorene Pfunde ziehen hohle Wangen nach sich […]. Zu viele Pfunde wiederum füttern den Bauchumfang, beengen den Atem und lassen die Hose rutschen. Es bleibt ein Kampf bis in die letzten Stunden […]. Unweigerlich verrät das Äußere mit den Jahren mehr und mehr über uns. Jeder Blick entblößt uns. Wir werden nackt, weil sich jeder vorzustellen vermag, was die Kleider […] zu verbergen suchen (Sven Kuntze S. 102 ff.).
Im Schlusskapitel steigt Kunze in den Beichtstuhl und bekennt, dass er sich diesem letzten rätselhaften Lebensabschnitt nur mit Zögern angenähert und alles hastig zusammengerafft hat, was an Eindrücken in unmittelbarer Nähe zu finden war. „Vieles ist notwendigerweise zu kurz gekommen oder überhaupt nicht bedacht worden. Es fehlt das Nachdenken über Trauer, Scham und Verzweiflung, um nur einige Themen zu nennen. Welche Rolle spielt Langeweile, Lebenslüge und Wut in den späten Jahren? Schließlich hätte ich gerne Genaueres über unsere Rolle als Gast auf diesem Planeten vor dem Hintergrund seiner Rechte und Pflichten erfahren […]. Es gäbe noch einiges zu tun! Auf jeden Fall werden mich die Verluste an Geborgenheit und Gewissheit […] weiter beschäftigen und die Frage, ob wir auf Dauer ›nackt‹ in den Frösten der Aufklärung überleben können“ (Sven Kunzte S. 254).
In seinen letzten Zeilen beugt er sich dann doch noch dem Wunsch der Herausgeber und hält folgende Ratschläge fest: „Nehmt an, was von Liebe, Glaube, Hoffnung übriggeblieben ist. Fragt bis zum letzten Atemzug. Entspannt euch, es gibt nicht mehr viel zu tun. Verluste im Alter sind verblüffend häufig Gewinn! Ehrt die Vergangenheit, verzichtet auf die Zukunft, und lebt im Augenblick. Bleibt daheim und meidet die Fremde. Und bummelt gemeinsam Hand in Hand und Arm in Arm durch den Rest der Tage“ (Sven Kuntze S. 255).
ham, 12. Mai 2020