Dez 27

Stefan Rohrer, Parabolika

Von Helmut A. Müller | In Künstlerbuch

Künstlerbuch aus Anlass des Stipendiums der ZF Kunststiftung im Jahr 2015 mit einem Text von Nicole
Fritz und einem Gespräch zwischen Stefan Rohrer und Regina Michel

Kunststiftung der ZF Friedrichshafen AG, Friedrichshafen 2015, ISBN 978-3-86136-194-7, 48 Seiten,
zahlreiche ein- und zweiseitige Farbtafeln, Hardcover gebunden, Format 28,5 x 23,3 cm, € 20.00

Beim ersten Durchblättern von Stefan Rohres Künstlerbuch Parabolika stellen sich bei mir Assoziationen von Geschwindigkeit und rasendem Stillstand ein. Ich erinnere mich an Filippo Tommaso Marinettis Parabel aus seinem Gründungsmanifest des Futurismus, nach der er und seine Künstlerfreunde die ästhetische Dekadenz des Ateliers verlassen, „um sich auf der Straße Automobile zu organisieren und mit ihnen durch die Nacht zu rasen“ (Kunsttheorie im 20. Jahrhundert Band I 1895-1941, herausgegeben von Charles Harrison und Paul Wood, Ostfildern-Ruit, 1998, S.165): „Los, sagte ich, los Freunde! Gehen wir! Endlich ist die Mythologie, ist das mystische Ideal überwunden. Wir werden der Geburt der Kentauren beiwohnen, und bald werden wir die ersten Engel fliegen sehen! […] Wir gingen zu den drei schnaufenden Bestien, um ihnen liebevoll ihre heißen Brüste zu streicheln. Ich streckte mich in meinen Wagen wie ein Leichnam in der Bahre aus, aber sogleich erwachte ich zu neuem Leben unter dem Steuerrad […]. Und wir jagten dahin und zerquetschten auf den Hausschwellen die Wachhunde, die sich unter unseren heißgelaufenen Reifen wie Hemdkragen unter dem Bügeleisen bogen. Der zahm gewordene Tod überholte mich an jeder Kurve und reichte mir artig seine Tatze […]. – Verlassen wir der Weisheit schreckliches Gehäuse, und werfen wir uns, wie mit Stolz gefärbte Früchte, in den riesigen und fletschenden Rachen des Windes! … Werfen wir uns dem Unbekannten zum Fraß hin, nicht aus Verzweiflung, sondern nur, um die tiefen Brunnen des Absurden zu füllen! Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich mich mit derselben tollen Trunkenheit der Hunde, die sich in den eigenen Schwanz beißen wollen, scharf um mich selbst drehte, und im gleichen Augenblick sah ich zwei Radfahrer auf mich zukommen […]. Wie dumm! Puh! … Ich bremste hart, und vor lauter Ärger stürzte ich mich, mit den Rädern nach oben, in einen Graben …“ (Filippo Tommaso Marinetti, Manifest des Futurismus, in: Le Figaro (❨Paris)❩, 20.2.1909, zitiert nach Kunsttheorie im 20. Jahrhundert Band I 1895-1941, a. a. O. S.184).

Beim weiteren Nachdenken drängen sich der Aufwand, das geduldige Arbeiten und die Zeiträume in den
Vordergrund, die Arbeiten wie Rohrers Wandskulptur ,Schleudertrauma Nr. 11, Modellautos, Stahl, Lack,
106 x 353 x22 cm’ von der ersten Idee über ihre kreative Weiterentwicklung bis zur Fertigstellung
benötigen. In den verschiedenen Phasen dieser Arbeitsprozesse dürfte Marinettis überbordende Affirmation der Geschwindigkeit eher hinderlich als förderlich sein. Zur Geschwindigkeit müssen Zeit zum Nachdenken, kreative Pausen und präzises Handwerk hinzukommen. Und Rohrer betet ja, genau betrachtet, Geschwindigkeit auch nicht wie Marinetti an; er stellt sie in seinen Skulpturen vielmehr still.

In seinem Künstlerbuch veröffentlicht Rohrer erstmals bearbeitete Scans von Detailaufnahmen seiner Wandarbeit Schleudertrauma Nr. 11. In diesen Scans kommen der Zufall und auch wieder die
Geschwindigkeit ins Spiel. Rohrer hat die Detailaufnahmen mal langsamer, mal schneller über den Scanner gezogen und dabei gleichsam Raum und Zeit verbogen: „Zeit spielt in meinen Arbeiten eine wichtige Rolle. In meinen Skulpturen erzähle ich Kurzgeschichten, mache Bewegung und Zeit sichtbar. Dieser Zeitaspekt, das Infragestellung des Gefüges von Zeit und Raum interessiert mich auch bei diesem Buch. Während bei einer Langzeitbelichtung die Dinge an der Kamera vorüberziehen, zieht der Lichtbalken des Scanners am Objekt entlang. Wenn das Objekt dann beim Scannen bewegt wird, verbiegen sich Zeit und Raum. Das Verzerren des Scanners mit seinem Lichtbalken ist wie eine Zeitlinie […]. Viele der Scans sind trotz ihrer Verfremdung immer noch als Details meiner Arbeit zu lesen. Selbst die auf den ersten Blick völlig abstrakten Bilder lassen sich durch die Reflektionen in der Wandarbeit Schleudertrauma Nr. 11 verorten […]. Die verzerrten Details erklären trotz ihrer Verfremdung einerseits die Skulptur, sind gleichzeitig aber auch eigenständige Bilder, die in die Malerei abdriften“ (Stefan Rohrer S. 17 f.). „Dieses Buch ist nun der Versuch […], neue Bilder von meinen Skulpturen zu generieren, die die malerische Qualität meiner Arbeiten hervorheben und von der vordergründigen Dinglichkeit wegführen“ (Stefan Rohrer Seite 17).

ham, 22.12.2015

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