Urknall, Higgs, Antimaterie und die rätselhafte Schattenwelt
Franck-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart, 2013, ISBN 978-3-440-13855-7, 511 Seiten, 55 schwarz-weiß-Fotos und 46 schwarz-weiß-Illustrationen, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 21,9 × 14,2 cm, € 24,99.-
Kinder, Wissenschaftler und Philosophen geben sich selten mit vorgefertigten Antworten zufrieden. Sie fragen immer weiter und wollen nicht nur wissen, wo sie selbst, sondern auch wo die Welt herkommt, was vor der Welt, dem Universum und dem Urknall war und warum etwas ist und nicht nichts. Jede denkbare Antwort wird wieder und wieder hinterfragt. So entsteht ein unendlicher Regress. Das Problem wird an einer Episode deutlich, die man sich von einem Vortrag von Bertrand Russell erzählt. Bei dem Vortrag hatte sich eine Zuhörerin zu Wort gemeldet und die These vertreten, dass die Welt eine Scheibe sei und von einer Schildkröte getragen werde. Auf Russels Rückfrage, wer denn die Schildkröte trage, antwortete sie, die stehe auf anderen Schildkröten „bis unten hin“.
Dem Philosophen und Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Vaas ist die Problematik vertraut. Deshalb schließt er aus, dass die von Physikern gesuchte fundamentale Weltformel, die die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie, die Theorien von Raum und Zeit sowie aller Kräfte und Materieformen verbinden soll, die unendliche Regression unterbrechen würde. „Im günstigsten Fall hätte man einen Satz oder eine Klasse von Sätzen entdeckt, die notwendig wahr sind. Dies würde dann einen >>zureichenden Grund<< liefern für das, was ist, und letztlich die berüchtigte Frage beantworten, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.
Doch es gibt starke Argumente dafür, dass sich nicht alles erklären lässt, und zwar nicht einmal im Prinzip, weil es gar nicht ersichtlich ist, dass für alles ein zureichender Grund bestehen muss. Selbst wenn dies für alle Vorkommnisse in der Welt (egal ob Universum oder Multiversum) so wäre, wenn es also keine
unhintergehbaren Zufälle gäbe, folgt daraus nicht, dass es für die Welt als Ganzes der Fall ist - dass es also einen Grund gibt, warum sie existiert, und nicht etwa nicht oder auf eine andere Weise existiert … Aus prinzipiellen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Erwägungen heraus kann es letzte und vollständig Erklärungen grundsätzlich nicht geben… Denn keine Erklärung ist voraussetzungslos. Und jede Erklärung oder Begründung basiert entweder auf einer nicht weiter hinterfragten - aber ja doch hinterfragbaren -Annahme, oder sie würde auf eine unendliche Begründungskette referieren müssen (einen unendlichen Regress) oder auf eine, die das zu begründende schon voraussetzt (also ein Zirkelschluss wäre). Das ist wie bei Kindern, die scheinbar endlos >> warum, warum, warum?<< fragen: Entweder gibt man immer eine Antwort, wenn man eine hat, und wird nie fertig; oder man bricht das Gespräch ab…; oder man wiederholt sich. All das ist letztlich unbefriedigend - und das wissen kluge Kinder auch … wie Wissenschaftler und Philosophen“ ( Rüdiger Vaas). Selbst eine erhärtete Weltformel wäre nur eine abstrahierende Annäherung an die Welt und nicht die Welt selber. All dies hat Vaas nicht davon abgehalten, die lange Suche nach dieser Weltformel im Detail nachzuzeichnen. Aber weil er um die prinzipiellen Grenzen der gesuchten Formeln weiß, verspricht einer keine Lösung der Kinder-und der Philosophenfragen. Er setzt bescheidener an und zeichnet nur nach, was die heute gängigen physikalischen Theorien über den Zeitraum von den ersten Bruchteilen der ersten Sekunde nach dem Urknall bis zum möglichen Ende des Universums sagen können.
Der Schwerpunkt liegt auf dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik.
Vaas setzt ein mit dem im im Large Hadron Collidor (LHC) des europäischen Forschungszentrum CERN experimentell nachgewiesenen Higgs-Boson, Im CMS- Detektor des LHCs sind bereits über eine halbe Million Higgs-Bososen entstanden-und nach jeweils einer Trilliardstel Sekunde sofort wieder zerfallen. Das neu gefundene Teilchen ist „das Quant eines Felds, ohne das es keine Masse gäbe, keine Atome und kein Leben. Dieses Feld durchzieht alles… und ist vielleicht der Schlüssel zu einer unbekannten Realität, zu verborgenen Dimensionen und einer >>Weltformel<<. Peter Higgs und François Englert, die die Existenz des neuartigen Felds vorausgesagt und so eine Großfahndung mit den gewaltigsten Maschinen aller Zeiten ausgelöst hatten, wurden im Dezember 2013 mit dem Nobelpreis geehrt“ (Rüdiger Vaas).
Im Kapitel „Mikrokosmos“ schlägt Vaas einen Bogen von der antiken Naturphilosophie über Naturgesetze und Atome bis zum modernen Standardmodell der Elementarteilchenphysik. Das Standardmodell beschreibt die bekannte Materie und alle fundamentalen Kräfte der Natur außer der Gravitation. Dieses Kapitel zeichnet die Erfolgsgeschichte des auch „Urknall-Maschine “ genannten LHCs nach.
Im Kapitel „Gottesteilchen“ wird die Suche nach den 1964 vorausgesagten Higgs-Bosonen skizziert. Das neue Boson hat eine Masse von knapp 126 Gigaelektronenvolt. Es besitzt sehr wahrscheinlich den Spin 0. „Daraus folgt, dass das Higgs-Feld keine Richtung haben kann -also ein Skalarfeld ist und kein Vektorfeld… Das Boson hat wohl eine positive Parität. Es verhält sich also gleich, egal ob es direkt oder in einem hypothetischen Spiegel >>betrachtet<< wird. Das Boson wird bei den LHC- Bedingungen… überwiegend durch Gluonen- Fusion gebildet… Das Boson tritt umso stärker… mit anderen Partikeln in Wechselwirkung, desto größer deren Masse ist… Alles spricht für den Nachweis des (oder eines) Higgs-Bosons und nichts dagegen. Damit kommt in gewisser Weise eine Ära der Teilchenphysik zu einem krönenden Abschluss“ (Rüdiger Vaas).
Das Kapitel „Antimaterie“ handelt von der Gegenwelt der Materie, die fast gleich und doch vernichtend erscheint. „Viele Elementarteilchen besitzen Gegenstücke mit teils identischen und teils genau spiegelverkehrten Eigenschaften, etwa einer entgegengesetzten elektrischen Ladung. Treffen sich die ungleichen Zwillinge, vernichten sie sich gegenseitig (Annihilation)… Physiker erzeugen Antiteilchen systematisch im Labor…“ (Rüdiger Vaas).
Im Kapitel „Dunkle Materie“ wird das Schattenreich beschrieben, „das sich nur durch seinen Schwerkrafteinfluss bemerkbar macht… Die unsichtbare Dunkle Materie muss mindestens das sechsfache der Gesamtmasse aller gewöhnlichen Elementarteilchen besitzen. Sie regiert die Galaxien…“ (Rüdiger Vaas).
Das Kapitel „Symmetrien“ spürt den Einheit stiftenden Symmetrieprinzipien nach. Schließlich profiliert das abschließende Kapitel „Weltformel“ die Stringtheorie als den besten Kandidaten für eine>> Theorie von Allem<<.
Wer als Nicht-Physiker über den Stand des im Physikunterricht Gelernten hinauskommen will, sollte die fulminante Publikation von Rüdiger Vaas in die Hand nehmen und so gut als möglich durcharbeiten. Wenn er dabei nicht jedes Detail versteht und die eine oder andere Seite und Tabelle überschlägt, ist das nicht weiter schlimm. Es könnte alles ja auch ganz anders sein…Man wird sehen.
ham, 13.8.2014
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