Verlag C. H. Beck, München, 2022, ISBN 978-3-406-78061-5, 304 Seiten, 101 Abbildungen, Hardcover, gebunden, mit Schutzumschlag, Format 24,3 x 16,5 cm, € 38,00

Wer verstehen will, wer wir sind, muss wissen, wo wir herkommen. Aber jede Herkunft liegt letztlich jenseits der Erinnerung. „Die Vergangenheit ist unbeobachtbar. Man hat von ihr gehört oder gelesen, man erinnert sich an sie, sortiert ihre Hinterlassenschaften oder macht sich ein nachträgliches Bild davon, wie sie gewesen ist. Aber keine dieser Formen des Gedenkens stellt die Vergangenheit wieder her. Was wir von ihr wissen oder imaginieren, erfahren wir über Umwege: Erzählungen, Dokumente, Bilder, materielle Überreste. Das Rekonstruierte bleibt bruchstückhaft, unscharf, unvollendet – Fragment auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Peter Geimer S. 7).

Für den in Berlin und Paris lehrenden deutschen Kunsthistoriker und Fototheoretiker Peter Geimer ist damit aber noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ihn interessiert, was man aus Bildern durch Rekonstruktion in der Tiefe des historischen Reservoirs erfahren kann (vergleiche dazu Peter Geimer S. 11). Historische Rekonstruktion wird dabei als eine Arbeit am Diskontinuierlichen verstanden, an einer Verschränkung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Gegenwärtigkeit und Entzug. „Dabei geht die Darstellung über metaphorische Anleihen beim Bild hinaus, denn untersucht werden … Verfahren der Rekonstruktion, die im Medium des Bildes vom Vergangenen handeln. Das schließt Bezüge zu Text und Sprache nicht aus. Im Gegenteil: Visuelle Evidenz bedarf zumeist der zusätzlichen Vermittlung durch Sprache. Chronologisch folgt die Darstellung den sehr unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Bildes in den Medien Malerei, Fotografie und Film. Jede dieser Techniken verfügt über eigene Möglichkeiten historischer Repräsentation, jede besitzt ihre eigenen Grenzen der Darstellbarkeit“ (Peter Geimer a. a. O.).

Die einleitenden Kapitel zeichnen den Versuch nach, ›Wahrheit‹ an die Darstellung von ›Authentischem‹ zu binden. „Man sucht das Vergangene in der künstlerischen Aneignung der ›Sachen selbst‹ – in der minutiösen Wiedergabe nebensächlicher Details, der Präsentation der Akteure im historisch korrekten Kostüm, der malerischen Mimikry fotografischer Verfahren, der Suche nach historischer Aura an den Schauplätzen des Gewesenen“ (Peter Geimer S. 12). Kapitel 1 verdeutlicht die ›Wirklichkeitseffekte‹ (Roland Barthes) der Historienmalerei an der hyperrealistische Detailbesessenheit von Jean Louis Ernest Meissonier (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Ernest_Meissonier); Kapitel 2 berichtet von der Vorstellung, im Panoramabild in das Gewesene eintreten zu können (vergleiche dazu etwa Anton von Werners
»Sedan-Panorama« von 1883: http://www.medienkunstnetz.de/werke/sedan-panorama/).

Das dritte Kapitel diskutiert das Wesen, die Möglichkeiten und die Grenzen der Fotografie. In der Fotografie wird das Gewesene als fixiertes Bild aus der Vergangenheit gegenwärtig. Diese Bilder „erreichen uns als physische Reste, Artefakte, denen die Signatur ihrer Zeit als historische Patina anzusehen ist – im charakteristischen Schwarz-Weiß der Bilder, oftmals ihrer Unschärfe und technischen ›Unzulänglichkeit‹. Für die Bestimmung der Geschichtlichkeit fotografischer Bilder ist es entscheidend, dass sie Vergangenes fixieren, zugleich aber ihrerseits Objekte in der Zeit sind – ›Bruchstücke des Nachlebens‹, ›Fetzen‹, die der Zeit ›entrissen‹ wurden ⟨Georges Didi-Hubermann⟩“ (Peter Geimer S. 13; vergleiche dazu etwa August Salzmann, Jerusalem, 1854: https://www.metmuseum.org/art/collection/search/286964). Das vierte Kapitel widmet sich dem Film und der Möglichkeit, die Bilder wiederzubeleben.

Gleichwohl stellt ein Filmfragment für sich genommen noch kein »Stück Geschichte« dar. „Eher ist es visuelles Rohmaterial, das, in eine andere Zeit versetzt, durch Montage und Kommentar erst zum Dokument gemacht werden muss. Kein Bild ist aus sich selbst heraus evident“ (Peter Geimer S. 13). Roland Barthes hat das Wesen der Fotografie als »Emanation des vergangenen Wirklichen« bestimmt (vergleiche dazu Peter Geimer S. 95 und Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, 1980: http://gams.uni-graz.at/archive/get/o:reko.bart.1980/sdef:TEI/get). Siegfried Kracauer würdigt den Film als Seismograf des Beiläufigen und Randständigen, als »Lumpensammler« und Spiegel jener »ungestalteten, larvenähnlichen Welt …, aus der wir kommen« (vergleiche dazu Peter Geimer S. 193).

„Kracauers Faszination für das zufällig Registrierte führt ihn zu einem Gedankenexperiment des französischen Kunsthistorikers Élie Faure … Faure imaginiert einen Dokumentarfilm, ›der … von einem weltenfernen Stern aus aufgenommen worden ist und uns … zugänglich gemacht wird.‹ Hier wären Bilder einer fernen Vergangenheit zu sehen, in die der Film bisher nicht vordringen konnte. ›Ließe dieser Traum sich verwirklichen, würden wir zu Augenzeugen des Abendmahls, der Agonie im Garten Gethsemane, der Kreuzigung.‹ Kracauers Interesse an der interplanetaren Wiedergabe der Passion richtet sich erwartungsgemäß nicht zuletzt auf die ›scheinbar belanglosen Begleitumstände‹, die den Wirklichkeitsgehalt der Aufzeichnung verbürgen würden – die ›kartenspielenden Soldaten, die von den Pferdehufen aufgewühlten Staubwolken, die Menschenmengen, die Lichter und Schatten in einer verlassenen Straße.‹ An ihnen offenbart sich die Zeugnisfunktion des Films. Dass sie für das Hauptgeschehen unbedeutend sind, aber gleichwohl überliefert werden, macht sie zu Statthaltern des Realen. Ihr Erscheinen zeigt an, dass die Kamera auch dort noch registriert, wo sich scheinbar Nebensächliches ereignet. Krakauers Realismus folgt an dieser Stelle derselben Logik, die … bereits als ›Wirklichkeitseffekt‹ der Historienbilder Meissoniers beschrieben wurde – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass die im Film gezeigten Nebendinge ihre Existenz nicht künstlerischer Könnerschaft und Imagination, sondern der Aufzeichnungsfunktion der Kamera verdanken“ (Peter 

Geimer S. 202 f.).

Neuerdings lassen sich mit der Hipstamatic-Foto-App Bilder mit Retro-Effekten erzeugen (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Hipstamatic). Hipstamatic-Aufnahmen simulieren unter Umgehung der verfließenden Zeit einen Anschein von Geschichtlichkeit. „Dieser Effekt ist nicht notwendig auf Schwarz-Weiß-Aufnahmen beschränkt, auch der spezifische Look historischer Farb-Aufnahmen lässt sich per Filter problemlos erzeugen … Mit Blick auf das Paradigma der Spur und der Zeugenschaft der Bilder zeichnet sich hier eine bemerkenswerte Verschiebung ab. Garantin der historischen Spur war das Vergehen der Zeit. Dieses war nicht mit den Mitteln der Technik oder Kunst herbeizuführen – es geschah von selbst. ›Es kam darauf an, zu warten. Die Zeit musste ihre Arbeit tun. Es war notwendig, zu vergessen und dann durch eine Suche, ein Gespräch oder den Anblick eines Fotos wieder erinnert zu werden.‹ Im Retro-Bild wird die Dauer dieses Vergehens als Effekt vorweggenommen. Die Zeit als Spur ist außer Kraft gesetzt“ (Peter Geimer S. 257 f.).

Aufs Ganze gesehen ist Peter Geimer ein Buch gewordener Forschungsbericht zu zentralen Begriffen der Bildwissenschaften gelungen, eine Art Propädeutikum der Bildwissenschaften (vergleiche dazu die Besprechung von Otto Langes vom 11. April 2022 im Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/peter-geimer-die-farben-der-vergangenheit-dlf-f4d8485b-100.html).

ham, 18. August 2022

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