Eine starke Eigenschaft neu denken und ihre Wirkung besser verstehen

Kösel-Verlag, München 2023, ISBN-13: 9783466347964, 366 Seiten, zahlreiche Grafiken und Tabellen, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 24,00

Narcissus war schon nach der griechischen Mythologie mit einem zweifelhaften Ruhm bestraft (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Narziss). Er soll ein schöner Jüngling gewesen sein, der die Liebe anderer zurückgewiesen und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat, vor Sehnsucht dahingeschwunden und in die gleichnamige Blume verwandelt worden sei. Nach Ovids Metamorphosen soll Narcissus schon als Knabe von so außerordentlicher Schönheit gewesen sein, dass sich die Nymphe Echo spontan in ihn verliebt und ihn für sich zu gewinnen versucht habe. Narcissus wies sie zurück. Er verliebte sich in sein Spiegelbild, das er in einer Quelle sah, aus der er trinken wollte. Er versuchte vergeblich, seinem Spiegelbild näherzukommen. Darauf verschwand sein Körper. Die Nymphen und auch Echo beklagten seinen Tod, der zum Erstaunen aller keine Leiche, sondern nur eine Narzisse übrig ließ. 

Der alltagspsychologisch aus dem Mythos abgeleitete Begriff Narzissmus steht umgangssprachlich für die Selbstverliebtheit und Selbstbewunderung eines Menschen, der sich für wichtiger und wertvoller einschätzt, als er von unvoreingenommenen Beobachtern beurteilt wird (vergleiche dazu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Narzissmus). Für die mit ihrem 1991 publizierten Buch zum weiblichen Narzissmus bekannt gewordene Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki ist dieser der Hunger nach Anerkennung (vergleiche dazu den von ihr am 15. Februar 1993 im Hospitalhof Stuttgart gehaltenen Vortrag „Der Hunger nach Anerkennung. Weiblicher Narzissmus“). Die FAZ-Journalistin Melanie Mühl hält den Narzissmus für die Krankheit unserer Zeit (vergleiche dazu: Melanie Mühl, Ich kam, ich sah, ich wirkte! In: FAZ vom 24.02. 2015 unter https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/narzissmus-ist-das-krankheitsbild-unserer-zeit-13443497.html). Die von Florentin Schumacher in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ Nr. 38 vom 7. September 2023 unter dem Titel „99 Tipps für Alles“ zusammengestellten Premiumempfehlungen der beliebtesten Ratgeber beginnen mit der Regel Nummer 1: „Nie die Nummer 2 sein!“ (Die Zeit Nr. 38, 7.9.2023, S. 67).

 Nach dem Nervenarzt, Fachbuchautor und langjährigen Medizinaldirektor am Zentrum für Psychiatrie Ravensburg-Weissenau Volker Faust gehört der Narzissmus in seiner negativen Form, insbesondere als narzisstische Persönlichkeitsstörung, zu den wissenschaftlich interessantesten, zwischenmenschlich aber problematischsten Erkrankungsformen, und zwar sowohl für den Betoffenen als auch für sein Umfeld.

„Am belastendsten sind die z. T. völlig gegensätzlich wirkenden Leidens­-Muster: brüchiges Selbstwert-­, aber grandioses Größengefühl in Bezug auf die eigene Bedeutung: Leistung, Talent, Ansehen, Schönheit, Reichtum, Beziehungen u. a. – aber meist ohne entsprechende Grundlage. Dabei die Neigung, sich anderen überlegen zu fühlen und diese die Verachtung auch spüren zu lassen. Eigenartig auch die Phantasien von grenzenlosem Erfolg, Macht, Glanz, Geist, Aussehen, idealer Liebe u. a. Und die Überzeugung, einmalig, zumindest aber etwas Besonders zu sein und nur von anderen großartigen Menschen als solcher erkannt, anerkannt, gefördert und bewundert zu werden. Und nur mit diesen Kontakt zu pflegen, alles andere zählt nicht. Daher auch die allseits verwundert registrierte Anspruchshaltung oder unbe­gründete Erwartung, was die bevorzugte Behandlung, die überzogenen Wünsche, Hoffnungen usw. anbelangt. Deshalb auch nicht selten die egoistische Einstellung, ja die gnadenlose Ausnützung gegenüber anderen bis hin zu ausbeuterischen Maßnahmen, um die eigenen Ziele durchzusetzen.

Dazu ein eigenartiger Mangel an Empathie, also Zuwendung und Hilfsbereitschaft, verbunden mit der Ablehnung, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen, anzuerkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren. Dabei aber selber leicht kränkbar und ggf. nachtragend. Häufig auch neidisch auf ande­re, vor allem was die irrige Überzeugung anbelangt, die Mitmenschen seien neidisch auf einen selber, wo man doch so großartig sei. Schließlich eine überhebliche, arrogante, hochmütige Wesensart, die nebenbei nur recht schwer zu durchschauen ist, zumal dahinter oft die berechtigte Furcht vor Kri­tik, ja geradezu hilflose Schüchternheit verborgen ist“ (Volker Faust, Narzissmus. In: https://www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/faust1_narzissmus.pdf).

Wenn der an der Universität Münster Psychologische Diagnostik und Persönlichkeitspsychologie lehrende Professor Mitja Back schon im Untertitel seiner für ein breites Publikum geschriebenen Publikation „Ich!“ von der Kraft des Narzissmus spricht, setzt er einen deutlich anderen Akzent (vergleiche dazu https://www.uni-muenster.de/Psychodiagnostik/Back/CV_deutsch.pdf). Für den eine Generation jüngeren Forscher ist Narzissmus in aller Regel keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitszug, der mehr oder weniger stark in jedem von uns steckt. Zwar betont auch Faust die Berechtigung eines „gesunden Narzissmus“. Aber in seinem gedrängten  Überblick über die Fachdiskussion stehen dann doch die Übergänge von der zeittypischen Normalität des Phänomens zur psychischen Störung, die Diagnostik der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung und ihre Auswirkungen für die Betroffenen und ihre Umgebung im Vordergrund. 

Back setzt dagegen mit dem eigenen Erleben beim gemütlichen Beisammensein am Freitagabend unter Freunden, Arbeitskollegen und dem Auftritt eines dieser Super-Egos ein und beschreibt dann das Phänomen unter der Überschrift „Wer bin ICH?“ als Jagd eines grandiosen Selbst nach seinem sozialen Status (vergleiche dazu und zum Folgenden S. 5), als Spiel zwischenschillerndem Reichtum, nie da gewesener Großherzigkeit und perfekten Opfern auf den Feldern des ICH!, als Spielarten des ICH! zwischen strahlendem Lächeln und Kämpfen mit dem Ellenbogen und als krankes ICH! mit dem Hinweis, dass Narzissten keine armen Würstchen sind, aber zu solchen werden können. Im zweiten Kapitel diskutiert Back mögliche Ursachen des Narzissmus und räumt dabei mit einigen überholten Ideen zur Entwicklung des Narzissmus auf. Demnach ist Narzissmus kein Phänomen allein der heutigen Generation und betrifft auch nicht nur die Männer. Er ist nicht auf traumatische Erfahrungen oder fehlende Elternliebe zurückzuführen. Diesen überholten Mythen stellt er eine realistische und optimistische Sicht auf die Rolle von Erziehung, Genen, unserem Geschlecht und der Kultur, in der wir leben, gegenüber. Wir sind Kinder unserer Natur, aber – auch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter – nicht ihre Opfer. Das Ich! kann sich beispielsweise durch unsere Erfahrungen mit anderen Menschen und unsere beruflichen Lebenswege in unterschiedliche Richtungen weiterentwickeln.

Im dritten Kapitel beschäftigt sich Back mit dem Nutzen und Schaden, den das Ich! im Privaten, im Beruflichen und in der Gesellschaft erzeugen kann. „Die meisten Menschen fühlen sich nicht zu Höherem berufen und halten sich nicht für etwas Besseres. Betrachten andere nicht als Publikum der eigenen Großartigkeit. Versuchen, gleichberechtigte Beziehungen einzugehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die wenigsten Menschen so richtig gut darin sind, Zuhörer und Datingpartner zu begeistern. Sich in Gruppen durchzusetzen, Führungspositionen zu ergattern und an den eigenen verrückten Ideen trotz Gegenwind festzuhalten. Ein Ich! hat damit weniger Probleme. Narzissten agieren aber nicht allein, sondern mit anderen und wegen anderer Menschen […]. Die Kraft des Narzissmus wird von anderen befördert oder verhindert und kann erstaunlich positive wie negative soziale, berufliche und gesellschaftliche Konsequenzen haben“ (Mitja Back S. 189). 

Über seltene toxische ICH!-Exemplare wie den durch die Netflix-Dokumentation „Der Tinder-Schwindler“ bekannt gewordenen israelischen Hochstapler Simon Leviev schreibt Back Folgendes: „Das Tinder-Profil zeigt einen attraktiven jungen Mann, gut gekleidet, cooler Blick. Fotos von Geschäftsessen in einem Edelrestaurant, auf einer Yacht, am Traumstrand. In Tokio, Südafrika, Oslo, Barcelona. Offensichtlich reich und in der Welt zu Hause. Es regnet »Matches«. Beim ersten Date: ein prickelnder Flirt und gleichzeitig so höflich und zuvorkommend. Anscheinend ist er Milliardär, irgendetwas mit Diamanten. Dann der Power-Move: spontane Einladung, direkt am nächsten Tag mit auf eine Geschäftsreise zu kommen – im Privatjet. Christian Grey lässt grüßen. Und auf geht’s. Hinein in die Aufregung und den Luxus. Die Hormone drehen frei. Es folgen teure Geschenke und Liebesversprechen per WhatsApp: eine gemeinsame Zukunft, Kinder. Und dann irgendwann dramatische Ereignisse, alles über WhatsApp berichtet: ein Überfall. Fotos vom verletzten Bodyguard, er selbst schwebe in Lebensgefahr und müsse fliehen. Er könne seine Kreditkarten nicht mehr nutzen und brauche dringend Geld. Es geht um alles. Jetzt sofort … Eine durchgetestete und ausgefeilte Masche, die er immer wieder eingesetzt hat. Mit Dutzenden von Frauen. Viele sind darauf reingefallen und haben dabei Hunderttausende Euro verloren. Zu aufregend, zu bedeutsam war dieses neue, nie für möglich gehaltene Leben. Der Tinder-Schwindler ist mit Sicherheit ein Narzisst“ (Mitja Back S. 244 f.). 

Narzissten begegnet man in allen möglichen Berufen. Es gibt selbst narzisstische Kindergärtner und Krankenschwestern. Und doch sind die ICH!s häufiger unter Top-Managern, Unternehmern, Chefärzten, Rechtsanwälten, Schauspielern, Künstlern und US-Präsidenten zu finden. „Man findet mehr ICH!s in der Unterhaltungsindustrie und unter Managern, nicht weil man in diesen Berufen zum Narzissten wird, sondern weil Narzissten diese Berufe eher auswählen. Ganz ähnlich ist es mit Chefärzten, Rechtsanwälten und Künstlern. Und warum tun Narzissten das? Na klar, wegen des ersehnten sozialen Status, der ihr Hierometer ausschlagen lässt. Bei Schauspielenden und Medienschaffenden ist es vor allem die riesige öffentliche Aufmerksamkeit […]. Bei Schriftstellern und Künstlern ist es die Unabhängigkeit und das Herbeizaubern von Nie-Dagewesenem: Das Ich! verschafft sich einen Logenplatz in der künstlerischen Ewigkeit. Und bei Managern, Chefärzten und Rechtsanwälten ist es vor allem das mit dem Job verbundene Geld, Ansehen und der Einfluss, den man auf andere Menschen hat: Andere schauen zu einem auf und man hat alles im Griff“ (Mitja Back S. 254). In eigenen Unternehmen können Narzissten ihre Träume und großen Ambitionen kompromisslos verfolgen. Auch bei 1000 Reichen mit einem flüssigen Vermögen zwischen einer und 500 Millionen Euro finden sich nach einer Untersuchung von Back tatsächlich mehr Narzissen als im Bevölkerungsdurchschnitt. Je risikoreicher sie waren, desto reicher wurden sie auch. „Vor allem die Self-made-Millionäre und weniger die Erben zeigten diese narzisstische Risikobereitschaft. Es scheint also nicht das Geld zu sein, das den narzisstischen Charakter prägt, sondern der narzisstische Charakter, der das Geld macht“ (Mitja Back S. 259). Aber: Das narzisstische Streben nach Mehr kann zum Erfolg, aber auch zum Absturz führen.

Back zieht folgende Bilanz: „Narzissmus, ehrlich betrachtet, kann uns also allen nicht nur schaden, sondern auch nutzen. Narzissmus kann die Kraft vermitteln, uns selbst, unsere Beziehungen und unsere Gesellschaft voranzubringen. Vor allem dann, wenn wir das Ich! klug einsetzen […]. Die Kraft des Narzissmus ist nicht einfach nur gut oder nur schlecht. Ich!s sind Teil der faszinierenden Vielfalt von Menschen […]. Dieser Persönlichkeitszug fasziniert, weil er mit so viel Power daherkommt. Im Guten wie im Schlechten. Narzissten können mit einer Ego-Show, die sie auf den Bühnen des Lebens veranstalten, das gemütliche Zusammensein stören – oder eben Leuchten in den Augen und Standing Ovation hervorzaubern. Die Ich!-Unterschiede sorgen aber nicht nur für Spannung und Unterhaltung. Sie sind für das menschliche Zusammenleben notwendig. Sie bieten Gesellschaften die Vielfalt, die es braucht, um mit Herausforderungen umzugehen […]. Ein Möglichkeitsreservoir, aus dem die Menschheit schöpft. Vorankommen, Verführung, Veränderung: Ich!-Nischen sind Teil unseres Lebens – es gibt einen Platz für die Kraft des Ich! (Mitja Back S. 324 ff.).

ham, 24. Juni 2024

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