Verlag C.H.Beck, München 2023, ISBN 978-3-406-79935-8, 288 Seiten, 15 Abbildungen, Hardcover gebunden, Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 25,00

Der außenpolitische Korrespondent der Wochenzeitung ›Die Zeit‹‹ Michael Thumann mit Sitz in Moskau und Berlin ist dem am 7. Oktober 1952 in Leningrad geborenen Wladimir Wladimirowitsch Putin bei einem Interview Ende 1999 erstmals persönlich begegnet. Damals war Putin ein schmalgesichtiger und fast schüchterner Regierungschef. „Er wirkte unbeholfen, sprach ein sehr umständliches Russisch mit vielen bürokratischen Formeln“ und tat so, „als wolle er gute Beziehungen mit dem Westen aufbauen. Er sprach von Demokratie und Zusammenarbeit, von gemeinsamer Bekämpfung des Terrorismus und wirtschaftlicher Kooperation. Schon damals glaubte ich ihm nicht wirklich. Ich hielt ihn für einen autoritär veranlagten Geheimdienstmann, der seine Amtszeit damit einläutete, Tschetschenien mit einem brutalen Krieg zu überziehen. Was ich trotzdem nie geahnt hätte, dass ich damals einen Menschen traf, der gut 20 Jahre später aus seinem Bunker der ganzen Welt mit einer atomaren Katastrophe drohen sollte“ (Michael Thumann S. 8 f.). Thumann ist einer der letzten deutschen Korrespondenten, die noch in Moskau leben und arbeiten. Nach ›Revanche‹ dürfte ein weiteres Interview mit Putin unwahrscheinlich geworden sein. Denn die Publikation räumt nicht nur mit dem von Helmut Schmidt proklamierten Mythos auf, dass, wer handelt, keine Kriege gegeneinander führt, sondern auch mit der Vorstellung, dass die Deutschen Russland am besten verstehen, Putin niemals das Gas als Waffe gebraucht und Russland auf westliche Interventionen reagiert. Als souveräne Großmacht handelt es in eigenen Denk-, Traditions- und Aggressionsmustern.

Wenn man Thumann folgt, ist die Panzerattacke und der Putsch der alten sowjetischen Garde gegen den letzten Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow im Jahr 1991 einer der Schlüssel zum Verständnis Putins. „Für Putin ist der Putsch ein kompliziertes Ereignis, weil er von seinen ehemaligen Vorgesetzten im Geheimdienst angezettelt wurde. Er hat kollektives Vergessen angeordnet. Zu verwirrend und schmerzhaft ist es für ihn, dass damals Gleichgesinnte gegen den Präsidenten aufbegehrten, was eigentlich Verrat ist. Die Putschisten wollten ein Russland, das dem von heute ähneln würde. Ihr Scheitern war eine krachende Niederlage der sowjetischen Sicherheitsdienste, in denen Wladimir Putin selbst aufgestiegen ist. Eine Niederlage für den sowjetischen Staatsapparat. Eine Niederlage, die Russland ein Jahrzehnt der Freiheit und der Chancen eröffnete. Plötzlich war alles möglich: freies Reisen ins Ausland, freie Wahlen, die Demokratisierung und ein Ende des russischen Fluchs, das persönliche Leben für die Expansion des Landes opfern zu müssen. Das Scheitern des Putsches befeuerte die Unabhängigkeit der kleineren Sowjetrepubliken und Russlands Aufbruch zugleich. Damals befreite sich Russland von den Fesseln der sozialistisch-imperialen Sowjetunion und bekam die Chance, ein normaler Nationalstaat zu werden. Putin hat sich an vielen gerächt, die für diese Entwicklung standen. Er will an die Niederschlagung dieses kläglichen Putsches nicht erinnern“ (Michael Thumann S. 41 f.). 

„Mit dem Putsch vom August 1991 wollten die Verschwörer die Sowjetunion retten und sich selbst. Das Imperium war ihnen wichtiger als Sozialismus und Sowjetvolk. Doch am Ende zerstörten sie das größte Land der Erde. Sie glaubten, gegen Michail Gorbatschow zu kämpfen, der Macht und Reich verspiele. Tatsächlich waren sie es, die mit ihrem Salto rückwärts die nichtrussischen Republiken aus der Union trieben. Und einen Keil trieben zwischen die Sowjetunion und die russische Föderation. Denn im Laufe der Putschtage erwuchs ihnen ein weitaus gefährlicherer Gegner als Gorbatschow, Boris Jelzin. Der russische Präsident wiederum musste einen der Putschisten wirklich ernst nehmen: Wladimir Krjutschkow, den Chef des mächtigen Geheimdienstes KGB, Putins Kaderschmiede … Jelzin und Krjutschkow lieferten sich über Russlands Weg ein Duell, das erst heute entscheiden ist – und zwar in Putins Sinn“ (Michael Thumann S. 42f.). Am 21. Dezember 1991 trafen sich die Vertreter von elf der verbliebenen zwölf Sowjetrepubliken und unterzeichneten die Gründungsakte der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten. „Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow zurück und übergab die Macht samt Atomkoffer an Boris Jelzin. Damit war der blutige, womöglich apokalyptische Zerfall einer nuklear bewaffneten Supermacht verhindert worden. Das war keine ›größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts‹, wie Putin sagte, sondern ein historischer Glücksfall“ (Michel Thumann S. 63). 

Putin zeichnet die 1990er-Jahre dagegen als Zeit des Zerfalls, des Chaos und der Kriminalität. „›Tatsächlich lief damals ein Bürgerkrieg‹, sagte Putin im Dezember 2021. Das Land sei kurz vor dem Auseinanderfallen gewesen. Dann aber habe er die Zügel angezogen und das Land geeint – und die US-Agenten vertrieben, die in Moskau als Berater arbeiteten. Das ist der Kern seiner Erzählung: die harte Hand, die das amerikanisierte, unregierbare und chaotische Land wieder zusammenführt. Wer die Geschichte kennt und in den 1990er Jahren in Russland gelebt hat …, weiß, dass das eine Lüge ist. Es gab keinen Bürgerkrieg. Tatsächlich war es Boris Jelzin, der Russland in den 1990er Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion zusammenhielt“ (Michael Thumann S. 70). Heute wird Russland ganz im Sinne der Putschisten von 1991 regiert.

Als Michail Sergejewitsch Gorbatschow am 22. August 2022 starb, kam Putin nicht zur Beerdigung seines Vorvorgängers. „Im Gegensatz zu Tausenden von Menschen, die mit Blumen zu Gorbatschows Sarg pilgerten, der im Säulensaal des legendären Gewerkschaftshauses neben dem Parlament aufgebahrt war. Sie standen viele Stunden Schlange, um Abschied zu nehmen. Und sie kamen wieder und standen lange auf dem Nowodewitschi-Friedhof, um noch einmal Abschied zu nehmen. Michail Gorbatschows sterbliche Überreste versanken in einem Meer von Blumen. Falls Putin ein Gebinde gestiftet hatte, war es nicht mehr zu sehen. Dafür fiel die Karte eines unbekannten trauernden Moskauers auf, ein rechteckiges weißes Blatt, das auf roten Nelken und Rosen lag. Auf die Karte hatte er mit blauer Tinte in schönen kyrillischen Buchstaben geschrieben: ›Ich danke Ihnen, Michail Sergejewitsch, für die Freiheit, für die Hoffnung und ein Leben ohne Angst‹“ (Michael Thumann S. 237).

Putins Gaskrieg gegen Deutschland und Europa begann 2015 mit dem gezielten Kauf der größten Gasspeicher Deutschlands; dazu kamen Pipelines, Verteilerstationen, Versorgungsunternehmen und die große Raffinerie in Schwedt. Nach dem kalten Winter 2021 begrenzte er die Gaslieferungen auf den europäischen  Markt und erhöhte die Preise. Zu Beginn des Winters waren die im Besitz von Gazprom befindlichen Speicher nahezu leer, weil Gazprom die Lieferung kräftig herunterfuhr. „Putins langfristig angelegte Verknappungspolitik eskalierte im Sommer 2022. Erst forderte er vertragswidrig die Bezahlung der Gasrechnungen in Rubel. Dann ließ er die Lieferung durch zahlreiche Pipelines nach Europa drosseln, durch die Ukraine, durch Polen und schließlich auch durch die Ostseepipeline Nord-Stream 1. Er betrieb mit Deutschland ein Katz-und-Maus-Spiel um angeblich nicht funktionierende Turbinen, ständige Wartungsausfälle und mangelnde Dokumente für die Wiedereinfuhr einer überholten Turbine nach Russland. Ab September verhängte Putin ein faktisches Gasembargo gegen Deutschland, wie zuvor schon gegen andere EU-Länder. Ende September zerrissen Anschläge drei von vier Strängen der beiden Nord-Stream-Pipelines. Putin antwortete nicht auf Waffenlieferungen des Westens, sondern setzte seine lange angelegte Politik fort. In Russland wurde darüber offen gesprochen, nur kam es in Deutschland nicht richtig an“ (Michael Thumann S. 252 f.).

Putins Krieg gegen die Ukraine steht nach Thumann im Kontext seiner Revanche-Politik. Schon 2018 hatte er in einer Rede an die Nation im Manegesaal am Kreml die USA und den ganzen Westen angeklagt, sie hätten Russland mit Aufrüstung und Sanktionen eindämmen wollen. „›Mit uns wollte niemand reden. Sie hörten uns nicht zu. Dann sollen sie jetzt mal zuhören!‹, rief Putin und ließ dann in Videofilmen eine Armada neuer Hyperschall-Interkontinentalraketen und Marschflugkörper über das Publikum hinwegdonnern. Die versammelten Abgeordneten, Staats- und Kirchenvertreter dankten ihm mit großem Applaus. Gegen Russlands neue Waffen, triumphierte der Herrscher, habe der Westen keine Mittel. 

Putin sann vordergründig auf Rache für die vielen eingebildeten Beleidigungen. Tatsächlich aber schlug die langjährige Forderung nach gleicher Augenhöhe in seiner vierten Amtszeit um in den Anspruch auf Überlegenheit. Den wollte er nun in einem Krieg – militärisch und hybrid – durchsetzen … Putin, Russlands oberster Revanchist, wagte 2022 den finalen Showdown mit dem Westen. Diese lange geplante Auseinandersetzung führte er um nichts weniger als die Vorherrschaft in der Welt. Er wollte, wie der erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Nikita Chruschtschow schon 1956 träumte, den Westen begraben. Doch weil Putin die Ansprüche so hoch gesteckt hatte, ging es zugleich um das Überleben seines Regimes und seiner selbst. Vor den vorbeiziehenden Atom- und Panzertruppen seiner Armee sagt Putin am 9. Mai 2022 auf dem Roten Platz: ›Die Verteidigung des Vaterlandes in Zeiten des schicksalhaften Überlebens war schon immer eine heilige Sache!‹ Damit hatte er die metaphysische Dimension des Kampfes gegen den Westen umrissen“ (Michael Thumann S. 240 f.). 

Die Armageddon-Drohung war einerseits Teil der psychologischen Kriegsführung. Aber wer immer wieder vom Einsatz der Atomwaffen spricht und auch die Verteidigung der annektierten Gebiete mit Atomwaffen für möglich erklärt, erhöht seinen Einsatz. „Redete Putin sich selbst in den Gebrauch der letzten Waffe hinein? Putin ist ein Kämpfer für das eigene Überleben. Es ist kaum vorherzusagen, wofür sich der 70-jährige Herrscher im atombombensicheren Bunker entscheidet“ (Michael Thumann S. 269). 

Hinter dem Gasembargo steht wohl sein Kalkül, dass Europa unter den hohen Gaspreisen, der Inflation und Aufständen zusammenbrechen würde. Europa und vor allem Deutschland sollten der Hauptschauplatz des russischen hybriden Kriegs gegen den Westen sein. Aber er hatte Europas Selbstbehauptungskraft wie schon so oft unterschätzt.

„Es spricht einiges dafür, dass der Angriff auf die Ukraine und den Westen Putins letzter Krieg und großer Auftritt auf der Weltbühne sein könnte. Er hat den Gesellschaftsvertrag mit seinem Volk zerrissen und verbrennt den Petro-Wohlstand der letzten zwei Jahrzehnte. Er hat eine Angstherrschaft aufgebaut. Die besten Köpfe und beweglichsten Menschen verlassen das Land. Wirkliche Innovationen und Entdeckungen kommen schon länger nicht mehr aus Russland. Die russische Industrie ächzt unter der Kriegswirtschaft. Das Ende der fossilen Epoche rückt näher. Russlands Einnahmen schrumpfen. Das Land treibt in die Abhängigkeit von China. Der Feldzug gegen das ukrainische Volk drohte ein zehrendes Unterfangen zu sein, in dem die Ukraine zerstört und Russland ausgeschlachtet wird für den besessenen Krieg seines Herrschers. Viele Zehntausende Menschen mussten dafür schon sterben, es könnten noch weitaus mehr werden. Mit der Mobilmachung der russischen Männer führt er faktisch Krieg gegen das eigene Volk … Putin hat sein Lebenswerk ›Stabilisierung Russlands‹ vernichtet. Seine unbändige Zerstörungswut trifft nun die Ukraine, sein eigenes Land – und womöglich die Welt“ (Michael Thumann S. 273 f.).

Michael Thumanns ›Revanche‹ ist „eine „Pflichtlektüre“ (›Der Standard‹, Paul Lendvai).

ham, 14. Februar 2023

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