Patmos Verlag, Ostfildern, 2017, ISBN: 978-3-8436-0601-1, 518 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22,4 x 14,5 cm, € 50,00

Der am 20. Juni 1940 in Bergkamen geborene habilitierte Theologe, Psychoanalytiker und kirchenkritische Publizist Eugen Drewermann hat zwischen 1985 und 2014 im Hospitalhof Stuttgart jährlich ein- bis zweimal ohne jedes Manuskript druckreif und ohne Punkt und Komma rund eindreiviertel bis zwei Stunden vorgetragen, so am 13. Mai 1985 zum Thema „Das Eigentliche ist unsichtbar. Der Kleine Prinz tiefenpsychologisch gedeutet“ und am 18. Februar 2014 zum Thema „Liebe, Leid und Tod. Daseinsdeutung in antiken Mythen“. In aller Regel fanden die Vorträge im gut 900 Besucher fassenden großen Saal des alten Hospitalhofs statt. Wenn der voll war, wurde der kleine Saal mit seinen 250 Sitzplätzen zugeschaltet. Eugen Drewermann hat seine dortigen Hörer vor seinem Vortrag persönlich begrüßt. Bei der Vorstellung seines Bandes „Kleriker. Psychogramm eines Ideals“ am 28. November 1989 haben die beiden Säle nicht mehr ausgereicht. Weil wir die aus ganz Baden-Württemberg angereisten Zuhörer nicht enttäuschen wollten, haben wir die damals noch nicht renovierte Hospitalkirche mit ihren 450 bis 500 Plätzen einbezogen (vergleiche dazu Theresia Heimerl, Eugen Drewermanns ›Kleriker‹ wiedergelesen. In: https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2019/4-2019/prophet-von-gestern-eugen-drewermanns-kleriker-wiedergelesen/). Mit der Zeit hat sich der Hype gelegt. Aber während des Hospitalhofneubaus  sind immerhin noch rund 250 Besucher zu „Liebe, Leid und Tod“ in die Stuttgarter Matthäuskirche gekommen.

Nach so viel Drewermann habe ich mich gefragt, ob mir die von dem heute in Indianapolis lehrenden Pastoralpsychologen und Psychotherapeuten Matthias Beier verantwortete Drewermann-Biografie noch Neues bringen kann. Nach der Lektüre bin ich positiv überrascht. So war mir nicht bekannt, dass Drewermann aus einer gemischtkonfessionellen Familie stammt, er das Beten von seiner katholischen Mutter gelernt, mit ihr im Krieg Bomberangriffe beim Sammeln von Brombeeren im Wald und in Kellern überstanden hat und er Angst um seinen in ein Grubenunglück verwickelten Vater gehabt hat. Als Schüler hat er seinen Lesehunger in der Lehrerbibliothek gestillt, bei seinem Deutschlehrer gelernt, dass des Menschen Verstand vor den wichtigsten Entscheidungen kapitulieren muss und als gut katholisch gegolten. Deshalb hat ihm sein protestantischer Rektor geraten, nicht Evangelische, sondern Katholische Theologie zu studieren. Bei Besuchen in seiner Etagenwohnung Am Paderwall in Paderborn kann einem auffallen, dass an der Klingel neben Drewermann der Name Deinert steht. Jetzt ist klar, dass  es sich um den Namen seiner Lebenspartnerin Eva-Maria Deinert handelt. Sie lebt seit 1973 mit Eugen Drewermann zusammen und ist Mitglied der Schwesterngemeinschaft  Serviam von Germete. Unbekannt war mir Kardinal Ratzingers enge Beziehung zur Katholischen Integrierten Gemeinde in München und deren zentrale Rolle als Ketzermacher-Organ. Eugen Drewermanns kapitalismuskritische Haltung ist bekannt, und wohl auch, dass er einen Großteil seiner sechsstelligen Einnahmen weitergibt. Neu war mir dagegen, dass er mit nicht mehr als 20 Euro in der Tasche sterben will.

Matthias Beier hatte als Theologiestudent an der Theologischen Hochschule der Evangelisch-methodistischen Kirche 1991 in den Abendnachrichten gehört, dass Drewermann die Lehrerlaubnis entzogen worden war und wenig später auch die Predigterlaubnis. „Ein Kollege im Seminar, der an Depressionen litt, hatte mir Drewermanns Buch ›Was uns Zukunft‹ gibt und ›Das Markusevangelium‹ empfohlen. Diese Bücher waren wie eine Revolution für mich. Die ganze abgestandene Art, von Gott zu reden, die ich in der Theologie kennengelernt hatte, wird in diesen Büchern aufgebrochen, sodass die biblischen Geschichten endlich wieder unmittelbar mit dem persönlichen Leben heute zu tun haben. Ich war so fasziniert von dieser neuen, frischen Art, religiöse Geschichten auszulegen, dass ich mich während des restlichen Studiums mit Drewermanns Grundlagenwerk Strukturen des Bösen und seinen frühen sozialkritischen Schriften zu Krieg und Umweltzerstörung beschäftigte. Während meiner Doktorstudien in den USA habe ich dann Mitte der 1990er mit Herrn Drewermann brieflich Kontakt aufgenommen und bin ihm erstmals im Oktober 1997 in Montreal, Kanada, begegnet. Dort hielt er Vorträge an der McGill Universität und am Goethe-Institut zu seinem gerade ins Französische übersetzten Buch ›Glaube in Freiheit‹“ (Matthias Beier, Biograf Eugen Drewermanns, gibt erste Einblicke. In: https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/media/medien/pdf/aktuell/978-3-8436-0601-1-Interview.pdf).

Im November 1999 hat Beier während Drewermanns erster USA-Vortragsreise Interviews mit ihm geführt und 2014 die Einladung des Patmos Verlags angenommen, eine Biografie Drewermanns zu erarbeiten. Die methodisch an Erik H. Eriksons Luther- und Gandhi-Biografien angelehnte psychohistorische Drewermann-Biografie führt vor, wie dieser seine Visionen der Überwindung von Angst, einer menschlichen Form von Religion, der Liebe und der Bewahrung des Friedens in den obrigkeitshörigen Strukturen der Katholischen Kirche gelebt und auch noch nach seinem Austritt aus der Katholischen Kirche bewahrt hat (vergleiche dazu https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kirchenaustritt-theologe-drewermann-verlaesst-die-katholische-kirche-1277820.html). 

Beier setzt mit den Kindheits- und Kriegserlebnissen Drewermanns, seiner Kriegsdienstverweigerung und seinem Entschluss, Theologie zu studieren, ein und konzentriert sich in seinem zweiten Teil auf die grotesken, komischen, surrealen und kafkaesken Umstände des wohl vom damals für die Kongregation für die Glaubenslehre zuständigen Kurienkardinal Joseph Ratzinger und späteren Papst Benedikt XVI. angestoßenen und vom Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt durchexerzierten Prozesses, der Drewermann an den Ketzerprozess gegen Giordano Bruno erinnert. „Hätte die Kirche noch heute die Macht, ihre als ›Ketzer‹ oder ›Häretiker‹ abgewehrten Erneuerer durch die ›weltliche Macht‹ aus der ›Welt‹ zu schaffen, so wäre Drewermann wohl dem gleichen Schicksal wie Bruno anheimgefallen. Wie Bruno lässt auch Drewermann sich nicht den Mund von den Kirchenoberen verbieten. Anders als Bruno findet Drewermann in der durch die Aufklärung von theokratischen Zwängen befreiten Öffentlichkeit Schutz und Unterstützung“ (Matthias Beier, S. 354).

Nach Beier identifiziert und verwechselt sich Bischof Degenhardt im Streit mit Drewermann um einen menschengemäßen Glauben mit Gott. „Der Bischof handelt […] nach dem Motto: ›Als Bischof muss ich das so sagen und weil ich es als Bischof sage, ist es so, selbst wenn es die Bibel nicht einmal so sagt! Und wer es nicht genau so glaubt, wie ich es quo Amt sage, teilt nicht den wahren Gottesglauben.‹ Hier zeigt sich die reine Willkür kirchenoberer Machtausübung in Glaubensfragen, die sich mittels geistlich-begrifflicher Gymnastik mit Gott identifiziert und verwechselt. Weil Drewermann dies wie kein anderer vor ihm in seiner psychologischen und philosophisch-theologischen Struktur durchschaut und konstruiert, macht sein Werk dem Vatikan seit über 30 Jahren »tiefe« Angst und Sorgen“ (Matthias Beier S. 374). Am Morgen des 8. 10.1991 liefert ein Bote des Erzbischofs das Dekret des Entzugs der Lehrbefugnis an Drewermanns Wohnung. Am 9.1.1992 entzieht er Drewermann die Predigtbefugnis. In einem weiteren Schritt leitet er am gleichen Tag ein außergerichtliches Strafverfahren aus zwei Gründen ein, weil Drewermann angeblich den historischen Jesus und den Christus des Glaubens zerreiße und zweitens, und das ist wohl der wirkliche Knackpunkt, weil Drewermann die vergöttlichte Macht der Kirchenoberen öffentlich kritisiert. ›Die Bischöfe glauben doch allen Ernstes, ihr Amt und nur ihr Amt sei geeignet, die Wahrheit des Glaubens zu formulieren und zu sichern. Das halte ich für eine widergöttliche Anmaßung. Religiöse Wahrheit lebt im Menschen und teilt sich ihm persönlich mit. Sie ergibt sich nicht aus überlieferten und außengeleiteten Doktrinen.‹ […] Es ist daher kein Wunder, dass Drewermann als neuer Martin Luther gefeiert wird“ (Eugen Drewermann/Matthias Beier, S. 409). 

In seinem dritten Teil beschreibt Beier Drewermann als therapeutischen Propheten, Friedensaktivisten und gesellschaftskritischen Publizisten und erinnert unter anderem an den ihm 2007 gemeinsam mit dem Sänger Konstantin Wecker 2007 in der Stuttgarter Liederhalle verliehenen Erich Fromm-Preis. 

ham, 3. August 2024

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