Rowohlt . Berlin Verlag, Berlin 2024, ISBN 978-3-87134-176-2, 540 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Hardcover, gebunden, mit Schutzumschlag. Format 22 x 14,5 cm, € 34,00

Beim 16. Jahrhundert denken Geisteswissenschaftler in aller Regel zuerst an den Aufbruch aus dem Mittelalter in die Neuzeit, die Renaissance, den Humanismus, die Reformation, den Bauernkrieg und schließlich auch an den Buchdruck, die Aufbruchstimmung in allen Wissenschaften und Künsten, Galileo Galilei, Nikolaus Kopernikus, Ferdinand Magellan, Johannes Kepler, Christoph Kolumbus, Adam Ries und die Türken vor Wien. 

Wenn Marina Münkler, die an der Technischen Universität Dresden Ältere und Frühneuzeitliche Literatur und Kultur lehrt, ihren jetzt vorgelegten fulminanten Überblick über das 16. Jahrhundert auf stark 500 Seiten begrenzen musste, konnte sie natürlich nicht alle Facetten dieses Aufbruchs in die frühe Neuzeit berücksichtigen. Aber es überrascht dann doch, dass sie sich auf das Osmanische Reich, die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt und die Reformation konzentriert. Sie entfaltet damit drei zentrale Konfliktfelder dieses dramatischen Jahrhunderts: „Das ist einmal die Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich. Stichwort: die Türken – keine korrekte Bezeichnung für das Osmanische Reich, aber es ist auch immer von den „Türken“ und den „Türkenkriegen“ gesprochen worden in der Zeit. Das Zweite ist die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt, also die Errichtung einer ziemlich grausamen Herrschaft über bis dahin völlig unbekannte Gebiete. Und das Dritte ist die Reformation. Und ich glaube, man kann das charakterisieren mit den drei Worten: die ›Türken‹, die ›Heiligen‹ und die ›Wilden‹. Und dann hat man dieses Jahrhundert, glaube ich, angemessen charakterisiert, wobei man immer bedenken muss, dass man kein Jahrhundert quasi vollständig auserzählen kann“ (Marina Münkler in SWR》Kultur unter https://www.swr.de/swrkultur/literatur/marina-muenkler-anbruch-der-neuen-zeit-das-dramatische-16-jahrhundert-100.html). 

Der große Vorteil dieser Konzentration besteht darin, dass der Leser einen tiefen Einblick in den kolonialismuskritischen Diskurs dieser Zeit und die in globaler Sicht beschränkte Bedeutung der Reformation bekommt. „Die Eroberung des südamerikanischen Kontinents hat erhebliche Diskussionen ausgelöst. Zum einen gibt es sowohl auf kirchlicher als auch auf weltlicher Seite eine ganze Reihe von Leuten, Theologen oder Juristen, die das vehement als gerechtfertigt vertreten. Es gibt aber auch überaus scharfe Kritik daran. Bartolomé de Las Casas ist der berühmteste Name in diesem Kontext – ein Dominikaner, der ursprünglich selbst mal einer von diesen Eroberern gewesen ist, sich dann aber bekehrt hat und danach tatsächlich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht hat, die sogenannten Indios zu schützen. Und das ist schon spannend, diese Diskussion, die es da gibt“ (Marina Münkler a. a. O.). 

In der globalen Perspektive schrumpft das Gewicht der Reformation. Und im gleichen Zug gewinnen nicht nur die spanischen Entdeckungen und Eroberungen „als Grundlage der Bildung eines Weltreichs an Bedeutung, auch die Bedrohung von dessen östlichem Zentrum durch die osmanischen Ambitionen einer Beherrschung der Welt rückt stärker in den Fokus. Die Eroberung der neuen Welt führte außerdem dazu, dass zwei Großreiche untergingen, die zuvor weite Teile des mittel- und südamerikanischen Kontinents beherrscht hatten: die Reiche der Azteken und der Inka“ (Marina Münkler S. 23). Und: „Die De-facto-Koexistenz der beiden Großreiche, dem der Habsburger und dem der Osmanen, mit dem Nebeneinander von Kaiser Karl V. und Sultan Süleyman »dem Prächtigen«, wurde zur geopolitischen Grundkonstellation des 16. Jahrhunderts in Europa. Beide Großreiche […] wiesen freilich erhebliche Unterschiede auf: Das spanisch-habsburgische Reich war aufgrund seiner überseeischen Kompetenz sicherlich das dynamischere und wohl auch das mächtigere, zeigte aber deutlich mehr Konfliktfelder und Verwundbarkeiten. Das osmanisch-türkische Reich war infolge seiner Zentrierung kompakter und geschlossener und zumindest im Mittelmeer ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor. Hätte man Mitte des 16. Jahrhunderts einen gut informierten Beobachter beider Großreiche befragt, welchem der beiden er die größeren Potentiale und die bessere Zukunftsaussichten zubillige, so hätte man vermutlich keine eindeutige Antwort erhalten“ (Marina Münkler, S. 39).

Die Debatte um die Frage, mit welchem Recht sich die Spanier als die neuen Herren „Westindiens betrachteten, wurde weniger von Juristen als von Theologen geführt (vergleiche dazu und zum Folgenden Marina Münkler S. 145 ff.). Der seit 1526 an der Universität Salamanca lehrende Dominikaner Francisco de Vitoria hat 1539 in seiner Vorlesung »Über die Indianer« gefragt, nach welchem Recht die »Barbaren« unter die Herrschaft Spaniens gekommen seien, welche Gewalt die spanischen Herrscher gegenüber den Barbaren in weltlichen und bürgerlichen Angelegenheiten hätten und welche Gewalt den spanischen Herrschern oder der Kirche in religiösen Fragen zukomme. Aus der Sicht des Naturrechts hat es sich bei dem neuentdeckten um kein herrenloses Land gehandelt, das von jedermann, der es findet, in Besitz genommen werden könnte. Damit entzog er dem ursprünglich angewandten Entdeckungs- und Finderecht den Boden. Weder der Kaiser noch der Papst könne aufgrund ihres universalen Herrschaftsanspruchs über die neuentdeckten Länder verfügen. Auch die Weigerung der »Barbaren«, den christlichen Glauben anzunehmen, berechtige nicht zur Unterwerfung. Selbst Missetaten oder ihre angebliche Zustimmung zu der Aufforderung, den spanischen König als ihren neuen Herren anzuerkennen, lässt er nicht als herrschaftsbegründend gelten. Erlaubt sei lediglich, in die »indischen« Länder einzuwandern, Handel zu treiben, die christliche Religion zu verkünden und den Schutz der bereits Bekehrten zu gewährleisten. In seiner Vorlesung »Über das Kriegsrecht« bemüht er dann aber das mittelalterliche Widerstandsrecht gegen die ungerechte Herrschaft eines Tyrannen und entwickelt daraus ein Interventionsrecht, das es den Spaniern erlaubt, gegen die Sitten und Gebräuche der Indios und insbesondere gegen die Menschenopfer vorzugehen.

Bartolomé de Las Casas hat in seinem „Kurzen Bericht von den Verwüstungen der westindischen Länder“, den er dem spanischen Hof 1541/1542 im Vorfeld der Beratungen der Nuevas Leyes, der neuen Gesetze zum Schutz der indigenen Bevölkerung vorgelegt hat (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Leyes_Nuevas und https://www.lai.fu-berlin.de/e-learning/projekte/caminos/lexikon/nuevas_leyes.html), eindringlich geschildert, dass während der 40 Jahre seit der Entdeckung »Westindiens« durch Kolumbus »durch die Gewalttaten und teuflischen Werke der Christen« mehr als »zwölf Millionen Seelen«, möglicherweise gar »fünfzehn Millionen«, auf »ungerechte und tyrannische Weise getötet wurden. „»Zwei allgemeine und hauptsächliche Mittel sind es, die jene wählten, die sich Christen nennen und hinübergefahren sind, um jene beklagenswerten Völker auszurotten und vom Angesicht der Erde zu vertilgen. Das eine besteht in ungerechten, grausamen und tyrannischen Kriegen. Das andere darin, dass sie – nachdem sie all jene getötet haben, die leidenschaftlich die Freiheit herbeiwünschen, sich nach ihr zurücksehnen oder an sie denken […] –, die übrigen mit dem härtesten Frondienst bedrücken, wie man ihn bisher noch niemals Menschen oder Tieren aufbürden konnte. Auf diese zwei Arten teuflischer Tyrannei lassen sich alle übrigen unterschiedlichen und vielfältigen Mittel, wie man jene Völker vernichtet, und es sind unendlich viele, zurückführen, zusammenfassen oder wie Gattungen zuordnen.« Die Ursache all dieser ungeheuerlichen Verbrechen bestand nach Las Casas in der Gier nach Gold, die er als die Wurzel allen Übels ansah.

Das war für den Kaiser und seine Räte ein überaus gravierender Vorwurf, denn das Einzige, was den Kaiser, der so dringend auf das mexikanische und peruanische Gold angewiesen war, von den räuberischen Tyrannen und mörderischen Wölfen trennte, war, so Las Casas, deren Wunsch nach Statusgewinn […]. Anders als die Konquistadoren verfügte der Kaiser bereits über den höchsten Status. Insofern griff Las Casas ihn nicht direkt an, aber er wies doch mit dem Finger auf dessen Wunde. In seiner Beschreibung der Indigenen kehrte Las Casas die Zuschreibungen damit vollständig um: Tyrannische und unrechtmäßige Herrschaft sah er nicht bei den »Indios«, sondern bei den spanischen Eroberern; »barbarische« Grausamkeit identifizierte er nicht bei den »Indios«, sondern bei den Spaniern; Hinneigung zum wahren Glauben nicht bei den Spaniern, sondern bei den »Indios«. Las Casas entwickelte sein Bild der »Indios« als Gegenbild zu allem, was ihnen vorgeworfen wurde und was er nun den Spaniern vorwarf. Damit gelang es ihm, einen moralischen Druck aufzubauen, dem der Kaiser ebenso wenig ausweichen konnte wie dem Druck, der von den Encomenderos und ihrer Partei ausging […]. Karl V. sah sich deshalb genötigt, am 7. Juli 1550 die Vertreter beider Positionen aufzufordern, vor der Junta von Valladolid, einem aus hochrangigen Juristen und Theologen zusammengesetzten Gremium zur Beratung des Königs, ihre Argumente vorzutragen […]. Letztlich führte die Debatte […] zu nichts – beide Seiten wurden angehört, aber keiner Seite wurde ein eindeutiger Sieg zugesprochen“ (Marina Münkler S. 165 ff.). Dass die Auseinandersetzung mit der Rolle der Konquistadoren in Lateinamerika bis heute noch nicht abgeschlossen ist, zeigt die aus Anlass des 500. Jahrestags der Eroberung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan ausgesprochene Forderung des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López an Spanien und den Vatikan, sich für die gewaltsame Kolonisierung des einstigen Landes der Azteken und Mayas zu entschuldigen (vergleiche dazu Spanische Kolonialgeschichte. Entschuldigen, warum? In: https://taz.de/Spanische-Kolonialgeschichte/!5580170/).

In ihrem Epilog geht Münkler noch kurz und knapp auf die enge Verbindung von Religionskriegen, Hexenverfolgung und wissenschaftlichen Innovationen am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert ein. Die als Hexe angeklagte Katharina Kepler wird zwar 1621 dank des Beistands ihres Sohnes Johannes und eines juristischen Gutachtens der Universität Tübingen freigesprochen, aber ist dann doch schon ein halbes Jahr nach dem Ende des Prozesses im April 1622 gestorben (vergleiche dazu Katharina Kepler. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Katharina_Kepler#:~:text=April 1622 in Roßwälden). „Wenige Jahre später beginnt der Dreißigjährige Krieg – und Johannes Kepler, der große Astronom und wohl bedeutendste Wissenschaftler des 16. Jahrhunderts, der sich stets vom Krieg hatte fernhalten wollen, tritt als Astronom in den Dienst des Feldherrn Albrecht von Wallenstein. Es sollte der bis dahin größte Krieg in Europa werden, eine Zuspitzung der vorausgegangenen religiösen und ideologischen Konflikte. Die Alte Welt wird verwüstet – auch durch technische und militärische Innovationen, die Zerstörungen ungeahnten Ausmaßes ermöglichen“ (Marina Münkler S. 457 f.).

ham, 2. Juli 2024

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