75 Blumenbilder und die 75 schönsten deutschen Blumengedichte von Leonardo da Vinci bis Ernst Jandl
Schirmer/Mosel Verlag, München 2023, ISBN 978-3-8296-0993-7, 184 Seiten, 75 Tafeln in Farbe und Duoton, Hardcover, gebunden, mit Schutzumschlag, Format 23,5 x 16,5 cm, € 29,80 (D) / € 30,70 (Ö) / CHF 34,30
Seinen 50. Geburtstag kann man allein und in der Stille, im Familienkreis, mit Freunden oder auch in aller Öffentlichkeit feiern. Der am 1. April 1974 von Lothar Schirmer und Erik Mosel gegründete und 2019 mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnete Schirmer/Mosel Verlag wählt einen seiner verlegerischen Praxis näher liegenden Weg: Er bringt einen Klassiker seines Programms, die 2001 in erster Auflage erschienene Anthologie ›O Stern und Blume, Geist und Kleid‹, als poetischen Auftakt zu seinem 50. Geburtstag neu heraus. Die von Marianne Schneider und Lothar Schirmer herausgegebene Publikation ist der erste Band der dem Gedächtnis von Marianne Schneider gewidmeten Jubiläumsedition. Gegenüber der Erstausgabe ist der Nick Knights Fotografie ›Anemone pavonina [Windröschen]‹, 1997, zitierende Schutzumschlag grafisch leicht variiert (vergleiche dazu Nick Knight, Bild 6/9 in der Zeit vom 18. Mai 2014: https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2014-05/fs-nick-knight-flora-fotographie-botanik). Neu ist auch der zwischen Schmutz- und Haupttitel platzierte Reihentitel ›Marianne Schneider-Gedächtnisedition‹. Im erläuternden Text wird an erster Stelle der am 2. Februar 2023 in Florenz verstorbenen langjährigen Freundin des Verlags, Ratgeberin, Lektorin und Übersetzerin in Fragen und zu Themen der italienischen Literatur und Kunst Marianne Schneider gedacht. Von Marianne Schneider stammt auch die Einleitung.
Nach Schneider folgt die Sammlung von Bildern und Gedichten von Blumen, Bäumen, Gräsern und Gärten zwei parallelen Strängen. Man kann sich mit ihr fragen, ob sie einander an- oder aneinander vorbeisehen und wie das Pflanzliche vor dem Betrachter und dem Leser steht: ›O Stern und Blume, Geist und Kleid …‹ bindet 75 Paare graphischer Blätter und Gedichte von 34 Künstlern und 44 Dichtern zu einem prächtigen Strauß von Bildern und Worten. Der Titel verdankt sich den beiden letzten Zeilen von Clemens Brentanos um 1835 entstandenem Gedicht ›Was reif in diesen Zeilen steht‹:
›Was reif in diesen Zeilen steht
Was reif in diesen Zeilen steht,
Was lächelnd winkt und sinnend fleht,
Das soll kein Kind betrüben,
Die Einfalt hat es ausgesäet,
Die Schwermuth hat hindurchgeweht,
Die Sehnsucht hat’s getrieben;
Und ist das Feld einst abgemäht,
Die Armuth durch die Stoppeln geht,
Sucht Aehren, die geblieben,
Sucht Lieb, die für sie untergeht,
Sucht Lieb, die mit ihr aufersteht,
Sucht Lieb, die sie kann lieben,
Und hat sie einsam und verschmäht
Die Nacht durch dankend in Gebet
Die Körner ausgerieben,
Liest sie, als früh der Hahn gekräht,
Was Lieb erhielt, was Leid verweht,
Ans Feldkreuz angeschrieben,
O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!‹
Es besteht nach Hans Magnus Enzensberger aus sechs jambischen Dreizeilern und einem Zweizeiler. „Auf zwei Vierheber folgt ein dritter Vers mit nur drei Hebungen. Somit findet sich der im Minnesang übliche Bau des Liedes aus Auf- und Abgesang. Das Gedicht schließt mit dem berühmten Zweizeiler ›O Stern und Blume …‹“ (vergleiche dazu und zum Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Was_reif_in_diesen_Zeilen_steht). Nach Gerhard Schulz spiegeln die beiden letzten Verse des Gedichts den Urgrund allen menschlichen Seins zwischen Himmel und Erde wider (vergleiche dazu Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Teil 2. Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege, München 1989). Brentanos Gedicht steht auf der linken Seite, die aquarellierte Federzeichnung von Friedrich Olivier ›Welke Ahornblätter‹ von 1817 rechts gegenüber (vergleiche dazu https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/herbstauktionen-2014-bei-bassenge-wunder-der-zeichenkunst-13279194.html).
Der erste Teil der Anthologie mit Gedichten und Bildern aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert setzt mit Martin Luthers Übersetzung von Salomons Hohem Lied 1, 12 –17 ein (vergleiche dazu https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/SNG.1/Hoheslied-1). Rechts gegenüber ist Leonardo da Vincis ›Lilienstudie‹, um 1473, platziert (vergleiche dazu https://www.amazon.de/1art1-87422-Leonardo-Vinci-Lilienstudie/dp/B011AR8AXK?th=1). Es folgen Walther von der Vogelweides Liebeslied ›Unter der linden‹, um 1200 (vergleiche dazu https://lyrik.antikoerperchen.de/walther-von-der-vogelweide-under-der-linden,textbearbeitung,220.html) im Verbund mit Albrecht Dürers Naturstudie ›Das große Rasenstück‹, um 1503 (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Das_große_Rasenstück), und etwas später Paul Gerhardts 1653 erstmals in der fünften Auflage von Johann Crüger Gesangbuch ›Praxis Pietatis Melica‹ veröffentlichtes Sommerlied ›Geh aus mein Herz und suche Freud‹ (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Geh_aus,_mein_Herz,_und_suche_Freud), dessen fünfzehn Verse von handkolorierten Kupferstichen von Tulpen und Schwertlilien aus dem Hortus Eystettenis von Basilius Besler von 1613 begleitet werden (vergleiche dazu Eduard Isphording, Kräuter und Blumen. Botanische Bücher bis 1850 in der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, Verlag des Germanischen Nationalmuseum 2008, S. 77 ff. und S. 177 ff. unter https://books.ub.uni-heidelberg.de/arthistoricum/reader/download/412/412-16-82313-2-10-20180912.pdf); Basilius Besler, Hortus Eystettensis, 1613, vergleiche dazu https://www.uni-regensburg.de/bibliothek/granatapfel/darstellungen/besler/index.html und Basilius Besler, Florilegium, 2016, vergleiche dazu https://www.amazon.de/Basilius-Beslers-Florilegium-Bibliotheca-Universalis/dp/3836557878).
Der zweite, dem 19. Jahrhundert gewidmete Teil wird mit der späteren Fassung von Goethes seiner Jugendliebe Friederike Brion zugedachtem Gedicht ›Mit einem gemalten Band‹ von 1771 aus der Sesenheimer Lyrik (vergleiche dazu https://www.projekt-gutenberg.org/goethe/gediletz/chap053.html) und Philipp Otto Runges Scherenschnitt ›Aurikel, Nelke, Rose und Hyazinthe‹ von 1804 eröffnet (vergleiche dazu https://www.hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/philipp-otto-runge/aurikel-nelke-rose-hyazinthe), der dritte, dem 20. Jahrhundert gewidmete Teil, mit Clemens Brentanos Gedicht ›Die Brautjungfern‹, 1834 –1842 (vergleiche dazu Clemens Brentanos gesammelte Schriften, herausgegeben von Christian Brentano 1852, Ausgabe 29, Band 1) und Karl Blossfeldts Photographie ›Lindenmalve, zwischen 1900 und 1930 (vergleiche dazu Meisterdrucke / Karl Blossfeldt, https://www.meisterdrucke.de/künstler/Karl-Blossfeldt.html).
Ein Glanz- und Höhepunkt ist mit Friedrich Hölderlins Gedicht ›Hälfte des Lebens‹ von 1805 und Emil Noldes ›Schwertlilien und Mohn‹, um 1907 (vergleiche dazu etwa https://www.wochenblatt.com/landleben/land-kultur/ausflugsziele/kuenstler-in-bauerngaerten-9250886.html) gesetzt: Die Farben der Birnen, Rosen und des Sees in Hölderlins Gedichtspiegeln sich im Gelb, Rot und Blau von Emil Noldes Aquarell:
›Friedrich Hölderlin, Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehen
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.‹
Wenn man Axel Kuhn folgt, verweist die Farbpalette gelb, rot und blau in der ›Hälfte des Lebens‹ auf eine Trikolore (vergleiche dazu und zum Folgenden Axel Kuhns Vortrag zu Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹ unter https://www.christian-wagner-gesellschaft.de/wp-content/uploads/210321_Hölderlin-Vortrag.pdf). Aber nicht auf irgendeine. „Es ist die Fahne der südwestdeutschen Republik von 1798/99. Man weiß aus zeitgenössischen Quellen, dass die Verschwörer bereits in Basel dreifarbige Kokarden in Auftrag gegeben hatten, ja dass diese Kokarden auch ausgeteilt wurden, Ihre Farben waren rot, gelb, blau“. Kuhn würde sich nicht trauen, die Farbsymbolik politisch auszulegen, wenn Hölderlin die Fahnen nicht am Ende selbst ins Spiel gebracht hätte. Aber so können die im Wind klirrenden Fahnen doch auch auf wirkliche Fahnen verweisen. Ist die Farbsymbolik einmal akzeptiert, entwickelt sie eine eigene Dynamik. Denn auch das zweite Bild entfaltet eine Farbskala, wenn auch nicht so deutlich wie das erste. „Schwäne: weiß: Küsse: rot; Wasser: blau. Das ist die Tricolore der Französischen Revolution und im Jahr 1803 die des Frankreichs des Konsuls auf Lebenszeit Bonaparte“ (Axel Kuhn a. a. O).
Beide Trikoloren haben die Farben rot und gelb gemeinsam. Das Gelb der Birnen und des Sonnenscheins ist im Winter verschwunden und die Vermählung der beiden Elemente „Erde und Wasser, also die Verbindung des revolutionären Frankreich mit dem revolutionsbereiten Deutschland […] musste dem eiskalten Despotismus des napoleonischen Frankreichs in Deutschland weichen. Im Jahre 1803, als Hölderlin an dem Gedicht arbeitete, wurden mit dem Reichsdeputationshauptschluss unter maßgeblichem Druck Bonapartes die geistlichen Fürstentümer in Deutschland abgeschafft. Aber die Fürstenherrschaft als solche blieb.“ (Axel Kuhn, a. a. O.).
Den Schluss der glänzend recherchierten, hochfein gestalteten, einfach schönen und kaum auszuschöpfenden Anthologie bilden Friederike Mayröckers Gedicht ›Zypresse‹ vom 16.7.1981 (vergleiche dazu http://www.planetlyrik.de/rudolf-bussmann-friederike-mayroeckers-gedicht-zypressen/2013/11/) und Andreas Gurskys noch kleinformatige Fotographie ›Busch, Krefeld 1989‹, 54 x 45,4 cm (vergleiche dazu https://www.andreasgursky.com/de/works/1989/krefeld-busch).
Wenn noch etwas anzumerken ist, dann die Frage, was den Herausgebern die Gewissheit gab, dass sie die im wahrsten Sinne des Wortes 75 schönsten deutschen Blumengedichte für ihre Anthologie ausgewählt haben.
ham, 5. August 2023