PsychMed Compact – Band 13
utb 6229, Ernst Reinhardt Verlag, München, 2024, ISBN 978-3825262297, 234 Seiten, 22 Abbildungen und 9 Tabellen, Format 21,5 x 14,9 cm, € 39,90
Herkömmlich stellt man sich vor, dass Menschen im höheren Lebensalter einsamer werden. Auch deshalb hat sich die Einsamkeitsforschung zu Beginn fast exklusiv auf Menschen im höheren (ab 65 Jahren) und hohen (ab 80 Jahren) Lebensalter konzentriert. Neuere Forschungen widerlegen diesen Mythos (vergleiche dazu und zum Folgenden Mareike Ernst, S. 33 ff.). Verschiedene Studien zeigen anhand repräsentativer Stichproben hohe Einsamkeit im jungen Erwachsenenalter bis etwa 30 Jahre, im mittleren Erwachsenenalter um die 60 Jahre und im sehr hohen Erwachsenenalter ab etwa 80 Jahren mit jeweils niedrigeren Werten zwischen diesen drei Höhepunkten.
„Forschungsergebnisse belegen, dass sich bereits Kinder einsam fühlen […]. Im Prozess des Aufwachsens, vor allem um die Pubertät herum, wurde dann in vielen Studien ein erster Einsamkeitsgipfel beobachtet […]. Die Lebensphasen mit Einsamkeitshöhepunkten sind durch verschiedene Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet, die mit Umbrüchen und Veränderungen (z. B. Auszug aus dem Elternhaus im jungen Erwachsenenalter oder Abnahme an gesundheitlichen Ressourcen im höheren Lebensalter) einhergehen und die Beziehungsgestaltung beeinflussen können. So variieren die hauptsächlichen Treiber für das Gefühl der Einsamkeit, aber auch Eigenschaften, Umstände und Aktivitäten, die vor ihr schützen, zwischen Altersgruppen: Eine Vielzahl sozialer Kontakte zu haben, unter Gleichaltrigen beliebt zu sein und auch das Eingehen erster romantischer Beziehungen treten als starke Wünsche in der Pubertät und Adoleszenz in den Vordergrund. Gleichzeitig sind Heranwachsende besonders vulnerabel gegenüber Zurückweisung und Erfahrungen sozialen Ausschlusses durch Peers, inklusive Mobbing […]. Ein starkes soziales Netz, bestehend aus Freund:innen und Familie, sowie qualitativ gute Beziehungen zu diesen stellen hingegen einen Schutzfaktor dar. Auch die Beteiligung an außerschulischen Aktivitäten (wie Sport) verringert die Wahrscheinlichkeit, dass sich junge Menschen einsam fühlen […].
Bei Erwachsenen wirkt ein starkes soziales Netz […] ebenfalls als Schutzfaktor gegen Einsamkeit. Außerdem verringert in dieser Altersgruppe ein aktives Engagement in der Gemeinschaft die Wahrscheinlichkeit, sich einsam zu fühlen. Generell sind diejenigen Erwachsenen, die einen Job haben oder anderen sinnvollen Tätigkeiten nachgehen, verheiratet sind oder in einer festen Beziehung leben und sich einer guten Gesundheit erfreuen, ebenfalls weniger einsam. Risikofaktoren beziehen sich auf die Abwesenheit bzw. den Verlust dieser Dinge: Eine Scheidung oder Trennung, der Tod eines geliebten Menschen oder von Freund:innen, der Eintritt in den Ruhestand (und damit einhergehende Verluste bestimmter sozialer Rollen, Anerkennung und Kontakte), chronische körperliche Gesundheitsprobleme, psychische Erkrankungen oder finanzielle Probleme/Armut können zu Einsamkeitsgefühlen auch in dieser Gruppe beitragen […].
Im höheren Lebensalter kann schließlich die abnehmende Gesundheit mit Barrieren gesellschaftlicher Teilhabe einhergehen. Auch der Verlust von Gleichaltrigen und Partnern trifft immer mehr Menschen. Oberhalb eines Alters von 90 Jahren fühlten sich in einer kürzlich durchgeführten großen Befragung in Deutschland mehr als doppelt so viele Menschen einsam (21 %) wie noch in der Gruppe der 80–84jährigen (8,7 %). Von den befragten Heimbewohner:innen fühlten sich mehr als ein Drittel einsam. Frauen waren in allen Altersgruppen des höheren und hohen Lebensalters eher betroffen als Männer“ (Mareike Ernst, S. 33 ff.).
Die von der an der Universität Klagenfurt lehrenden Psychologischen Psychotherapeutin Postdoc-Ass. Dr. Mareike Ernst, MSC zusammengetragenen Forschungsergebnisse setzen mit den heute in den Sozialwissenschaften üblichen Definitionen von Einsamkeit ein. Demnach sind Menschen soziale Wesen, die die Einbindung in eine Gemeinschaft brauchen, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben. Nach der heute am häufigsten herangezogenen wissenschaftlichen Definition ist Einsamkeit ein unangenehmes Gefühl, das in Situationen entsteht, in denen die sozialen Beziehungen einer Person in irgendeiner wichtigen Weise unzureichend sind, entweder qualitativ oder qualitativ (Mareike Ernst, S. 12). Einsamkeit ist das innere Gefühl, das in sozial isolierten Situationen entsteht. Von sozialer Einsamkeit wird gesprochen, wenn eine Person unter mangelnder Einbindung in ein soziales Netzwerk leidet, das mehrere Personen umfasst. Emotionale oder intime Einsamkeit meint dagegen das Fehlen einer engen Bindung. Kollektive Einsamkeit bezieht sich auf die von einer Person geschätzten sozialen Identitäten oder Netzwerke wie Fußballmannschaften oder die nationale Identität. Kulturelle Einsamkeit tritt unter anderem bei Flüchtlingen auf, wenn sie in Umgebungen kommen, die stark von ihren eigenen kulturellen Hintergründen, Überzeugungen, Werten oder Gewohnheiten abweichen. Dies kann zu einem Gefühl der Trennung, des Nicht-Verstanden-Werdens und der Isolation führen. Vorübergehende Einsamkeit bezeichnet kurze Einsamkeitsepisoden, situationale Einsamkeit ist eine etwas länger bestehende Einsamkeit, die in sozialen Umbrüchen entsteht, und chronische Einsamkeit ist der Zustand der Einsamkeit über eine Zeit von mehr als zwei Jahren ohne Unterbrechung.
In der Forschung wird die Entstehung von Einsamkeit einmal durch die evolutionäre Theorie der Einsamkeit erklärt, der zufolge Einsamkeit ein adaptives, dem Überleben dienendes Alarmsignal darstellt, dann durch das Teufelskreismodell, nach dem Betroffene aus der Einsamkeit und ihren Folgen schwer oder nicht mehr aussteigen können, und schließlich durch das Konzept des Reaffiliationsmotivs, nach dem Menschen soziale Bindungen suchen und aufrechterhalten wollen. Einsamkeit ist in der bisherigen Forschung vor allem als Folge gesamtgesellschaftlicher Umwälzungen aufgefasst und erforscht worden. Es mehren sich jedoch die Hinweise, dass persönlich erlebte Einsamkeit auch Folgen hat, die auf die gesellschaftliche Ebene zurückwirken. Dass Einsamkeit ein relevanter eigenständiger Risikofaktor für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Verschlimmerung diverser psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Suizidalität gelten kann, ist offenkundig. Dass es in Deutschland lange keine groß angelegten Strategien gegen Einsamkeit gab, auch.
In den letzten Jahren hat sich aber viel getan. Den Beginn machte der Landtag Nordrhein-Westfalen 2020 mit einer fraktionsübergreifenden Enquetekommission (vergleiche dazu https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-16750.pdf). Seit 2022 besteht das am Frankfurter Institut für Sozialpädagogik e.V. lokalisierte Kompetenznetzwerk Einsamkeit (vergleiche dazu https://kompetenznetz-einsamkeit.de/), das auf seiner Webseite vielfältige Informationen zu den Ursachen und Folgen von Einsamkeit sowie Strategien zu ihrer Bekämpfung bereitstellt. Die am 13.12.2023 beschlossene Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit ist für Mareike Ernst ein bedeutender Meilenstein (vergleiche dazu https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/engagement-und-gesellschaft/strategie-gegen-einsamkeit-201642). „In ihr wird festgehalten, dass Einsamkeit als intersektionales Problem zu sehen ist, das zudem Personen aller Altersgruppen betreffen kann. Zu den Zielen gehören die Etablierung eines Einsamkeitsbarometers, d. h. ein qualitativ hochwertiges Monitoring des Niveaus der Einsamkeit in der Bevölkerung, sowie die Förderung weiterer Forschung, die evidenzbasiert Einblick in mit Einsamkeit assoziierte Risiko- und Schutzfaktoren im deutschen Kontext geben soll. Darüber hinaus soll die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert werden, Einsamkeit ‚besprechbar‘ gemacht, d. h. entstigmatisiert werden, und für Betroffene mehr niederschwellige Zugänge zu Hilfsangeboten gebahnt werden“ (Mareike Ernst, S. 207).
Weniger positiv urteilt Stefanie Kara über die Strategie der Bundesregierung, wenn sie im Untertitel ihres ganzseitigen Artikels „Allein hier?“ in der Wochenzeitung DIE ZEIT Nº 34 vom 8. August 2024 auf Seite 45 schreibt: „Über Einsamkeit wird viel geredet. Zum Glück weiß die Wissenschaft, was zu tun wäre. Doch in der Strategie der Bundesregierung finden sich diese Erkenntnisse kaum wieder“ (vergleiche dazu https://www.zeit.de/2024/34/einsamkeit-epidimie-bundesregierung-gesellschaft-forschung).
ham, 19. August 2024