Studien zur Deutschen Literatur Band 227 / Edition Niemeyer

Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2022, ISBN 9783110729665, 428 Seiten, Hardcover, gebunden, Format 23,3 x 16,2 cm, € 99,95.

Lena Zschunkes 2019 von der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene und in der vorliegenden Fassung leicht überarbeitete Dissertation ›Der Engel in der Moderne‹ ist der Gewinnertitel des 2021 ausgeschriebenen Open-Access-Preises und kann unter dem Link https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110552621/html?lang=de kostenlos down geladen werden.

Ernst Barlachs ›Geistkämpfer‹ von 1928 (vergleiche dazu https://kiel-wiki.de/Geistkämpfer), HAP Grieshabers Holzschnittfolge ›Engel der Geschichte‹ aus den Jahren 1964 – 1981, Wim Wenders Fantasy-Drama ›Der Himmel über Berlin‹ aus dem Jahr 1987, Anselm Grüns seit seiner Erstauflage im Jahr 2022 allein in Deutschland in einer Auflage von einer Million verkaufter und in 18 Sprachen übersetzter Bestseller ›50 Engel für das Jahr‹ und die kaum zu überblickende Zahl von Engelskarten und -skulpturen zeigen, dass Engel  im 21. wie auch schon im 20. Jahrhundert hoch im Kurs stehen. Dabei schienen sie doch nach der reformatorischen Disziplinierung der Engelslehre, der aufklärerischen Kritik an ihrer physikalisch nicht nachweisbaren Substanz, ihrer Verballhornung durch den Kirchenhistoriker Karl August von Hase Anfang des 19. Jahrhunderts als ›metaphysischen Fledermäuse‹ und in der ehemaligen DDR als ›Jahresendflügler‹ und Rudolf Bultmanns Entmythologisierung zumindest im liberalen Protestantismus erledigt. 

Aber sie haben selbst im Protestantismus in Kirchenliedern wie Jochen Kleppers „Die Nacht ist vorgedrungen“, EG 16 (vergleiche dazu https://lebendigelutherkirche.de/wp-content/uploads/2020/12/EG-16-Die-Nacht-ist-vorgedrungen.pdf), Martin Luthers „Vom Himmel kam der Engel Schar“, EG 25 (vergleiche dazu https://www.projekt-gutenberg.org/luther/lieder/chap031.html), Detlev Bocks „Heut singt die liebe Christenheit“, EG 143 und Martin Schallings „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“, EG397 (vergleiche dazu https://www.evangeliums.net/lieder/lied_herzlich_lieb_hab_ich_dich_o_herr.html) überlebt und sind darüber hinaus auch in die Literatur, die Kunst und selbst in die Psychotherapie eingewandert (vergleiche dazu https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/gesellschaft-religion-warum-uns-engel-immer-noch-faszinieren). Dass es Engel als rein geistige Wesen gibt, ist im Katholizismus nach der vom Ersten Vatikanischen Konzil bestätigten Engelslehre des vierten Laterankonzils eine Glaubenswahrheit (vergleiche dazu https://www.unifr.ch/orthodoxia/de/assets/public/Lehre/FS2022%20-%20Schöpfung/Vorlesung_Engel-Tiere.pdf). Das römische Lehramt hält nach wie vor am substantiellen und personellen Engelsbegriff fest. Als rein geistige Geschöpfe haben sie Verstand und Willen; sie sind personale und unsterbliche Wesen. Sie überragen alle sichtbaren Geschöpfe an Vollkommenheit (vergleiche dazu https://www.kathpedia.com/index.php/Engel).

In Lena Zschunkes Studie ›Der Engel in der Moderne. Eine Figur zwischen Exilgegenwart und Zukunftsvision‹ geht es um die Frage, warum in Texten der Moderne so viele Engel auftauchen. Sie fand es nicht plausibel, dass diese Omnipräsenz nur nostalgische Gründe haben soll, sondern hat die These verfochten, dass Engel vielfach für die Reflexion von Exilsituationen und neuen gesellschaftlichen Ordnungen genutzt werden – und somit in Verbindung zu wesentlichen geschichtsphilosophischen und politischen Fragen des 20. Jahrhunderts stehen. Engel b0ten sich deshalb an, „weil sie seit Anbeginn der Bibelrezeption Figuren voller Ambivalenz zwischen Reinheit und Sünde, Machtstabilisierung und Umsturz, Schönheit und Monstrosität sind. Verkürzt gesagt waren Engel immer schon weltzugewandter und ›unreiner‹, als es sich die frühen christlichen Engelslehren gewünscht hätten. Umgekehrt ist die moderne Literatur nicht so religionsfrei, wie es eine auf dem Säkularisierungsnarrativ aufsattelnde Literaturwissenschaft wahrhaben wollte“ (Lena Zschunke in ›10 Jahre Open-Access-Bücher bei de Gruyter‹: https://blog.degruyter.com/10-jahre-open-access-bucher-bei-de-gruyter-lena-zschunke-und-ihr-gewinnertitel-der-engel-in-der-moderne/).

Zschunke fasst ihre Studie so zusammen: Das Gravitationszentrum der Studie bildeten „Engelsfiguren im Spannungsfeld von verlorenen und falschen Paradiesen, individualbiographischen und metaphysischen Entortungen sowie politischen und ästhetischen Zukunftsvisionen. Die Krise von Gott und Subjekt als tragender Pfeiler der Moderne-Debatte führt […] keineswegs zum Verschwinden der Engel, im Gegenteil: Durchbricht man das einseitige Schema von religiöser Vormoderne und atheistischer Moderne, gerät die Zeitgemäßheit der Engel als moderne Krisenphänomene in den Blick, die exilische Strukturen offenlegen und zugleich an ihrer Überwindung mitwirken. Die in dieser Studie beleuchtete Vielfalt von geschichtsphilosophischen, medienästhetischen, anthropologischen und politischen Aspekten, die mit Engelsfiguren in der Moderne verknüpft sind, hängt mit dem breiten Spektrum des Exilbegriffs im 20. Jahrhundert zusammen. ›Exil‹ bezeichnet nicht nur den Verlust der geographischen Heimat, sondern wird als Metapher für jegliche Formen phylo- und ontogenesischer Brüche gebraucht. Diese Übertragungen reichen bis zur Vertreibung des Menschen aus dem Paradies zurück und gewinnen an Intensität in einer Debatte, in der das Exil als konstitutives Merkmal des modernen Lebens gilt. 

In den untersuchten Reflexionen zur exilischen codition moderne im 20. Jahrhundert trat die Diagnose des Mangels als dominierendes Merkmal hervor: Mangel an Verbundenheit in der Welt, Mangel an Verortung in höheren Sinsstrukturen, Mangel an Gemeinschaft, aber auch an Nahrung, Einkommen, staatsbürgerlich verbürgten Rechten und sicheren Lebensräumen. Die Rolle, die Engel in dieser Gemengelage von metaphorischen und existentiell-biographischen Exilerfahrungen spielen, wurde in den Werken von Rainer Maria Rilke, Walter Benjamin, Klaus Mann und Ilse Aichinger untersucht. Die Studie folgte dabei dem Spannungsbogen einer zunächst metaphysisch grundierten Entfremdungsempfindung um 1900 über die existentielle Zuspitzung im Ersten Weltkrieg (Rilke) mit geschichtsphilosophischen Reflexionen (Rilke und Benjamin) bis zur sich Bahn brechenden nationalsozialistischen Vernichtungsgewalt 1939/40 (Benjamin und Mann) und schließlich der Perspektive nach dem Holocaust (Aichinger).

Die Verbindung zwischen den Entfremdungsempfindungen und Vertreibungserfahrungen des 20. Jahrhunderts einerseits und der Figur des Engels andererseits erschöpft sich nicht in der naheliegenden Annahme, dass Engel als Trostfiguren den ›Tod Gottes‹ kompensieren und eine verlorene Ganzheit heraufbeschwören. Stattdessen, so kann nach der Untersuchung der genannten Werke resümiert werden, treten Engel auf vielfache Weise als Verursacher, Indikatoren und zukunftsgerichtete Überwinder moderner Formen des Exils in Erscheinung. So stellt der Engel erstens als Medium, das für seine Vermittlung den Bruch zwischen zwei Polen voraussetzt, eine Reflexionsfigur für exilische Zustände dar, ob als Teil geschichtsphilosophischer Gedankengebäude oder eines individualbiographischen Traumas. Zweitens wird über den Engel als unmenschliche Figur die im Zuge des Ersten Weltkriegs debattierte Deformation und Auflösung des Menschlichen illustriert oder wahlweise zu heilen oder voranzutreiben versucht. Drittens bildet der Engel als ambivalente Exekutivkraft, die die himmlische Hierarchie stützt und zugleich gefährlich weltzugewandt agiert, die spannungsträchtige Gleichzeitigkeit von Säkularisierungs- und Sakralisierunsbewegungen der Moderne ab. Viertens werden über den Engel neue Geschichtsbilder und politische Ordnungen entworfen, die er als ästhetische Metalepse, die Zukünftiges sichtbar macht, in der Exilgegenwart veranschaulicht. Fünftens bietet der Engel eine Möglichkeit, Fragen der Darstellung des Undarstellbaren zu verhandeln, die insbesondere nach dem Holocaust eine zentrale Rolle für den Umgang mit Geschichte und die Neukonstituierung von Gesellschaft spielen“ (Lena Zschunke S. 368 f.).

Alle untersuchten Werke verbindet, dass Engel aufgrund ihrer Nähe und gleichzeitigen Opposition zu hierarchischen Strukturen die Krise von Ordnungen illustrieren und darüber hinaus an den Grenzen von menschlicher Sag- und Erkennbarkeit neues Terrain erschließen und zur Anschauung bringen. „Die Engel bei Rainer Maria Rilke und Klaus Mann veranschaulichen Entfremdung und Leid, ihre ästhetische Potenz wird aber vor allem fruchtbar gemacht, um eine bessere Zukunft vor Augen zu stellen. Bei Rilke bildet dieser Zukunftsbezug, der im Ersten Weltkrieg massiv gestört ist, die Grundlage für das künstlerische Schaffen des strukturell exilierten Künstlers. Bei Mann ist die angelisch vermittelte Gestaltung eines göttlichen Heilsplans strategisch motiviert und dient als Appell an die Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Kampf gegen den Faschismus. Die Engel bei Walter Benjamin und Ilse Aichinger bilden ein Gegengewicht zu dieser zukunftsorientierten Ausrichtung. Hier steht die Frage im Zentrum, wie die Toten und die Schrecken der Geschichte sichtbar gemacht werden können, die die Erzählungen von Sieg und Neuanfang verdecken. Während bei Benjamin nur über diese Rückwendung zur Vergangenheit überhaupt Veränderung und Rettung möglich ist, hat bei Aichinger der tatsächliche Gang der Geschichte jeden ungebrochenen Zukunftsoptimismus zerstört. Gleichwohl eröffnet der Engel auch in dieser Situation Momente einer Verwandlungshoffnung. Die Engelsfiguren sind in den untersuchten Werken durchaus verschieden. Gemeinsam ist ihnen allen, dass der Engel die Wahrnehmung für das gegenwärtig Unsichtbare öffnet; für das im Exil Verlorene und von der Geschichte Zerstörte ebenso wie für Visionen einer zukünftigen neuen Welt […].

Indem Engel […] Übergänge zwischen scheinbar strikt getrennten Bereichen herstellen und gegensätzliche Zeitmodi mit paradoxen Effekten zusammenschließen, schärfen sie den Blick für jene subtilen Zusammenhänge zwischen religiösen und profanen Ordnungen, die in normativen Epochenkonzepten wie dem einer religionsfreien Moderne unerkannt bleiben müssen. Mit ihrem Bezug zu Krisenzuständen illustrieren Engel diese Verbindungen überdies bevorzugt in solchen Situationen, in denen Ordnungsstrukturen in ihrer Fragilität sichtbar werden und nach Neujustierung verlangen.

Die in dieser Studie gewonnen Einsichten zu Engeln als modernen Krisenfiguren eröffnen so nicht nur Anknüpfungspunkte für die Exilforschung. Die Erkenntnisse zu religiös kodierten Inhalten und Strukturen, die durch die Figur des Engels zum Ausdruck kommen, zeigen die Revisionsbedürftigkeit teleologischer Säkularisierungsnarrative. Was aus historischer, kulturwissenschaftlicher oder soziologischer Perspektive bezüglich der Fragwürdigkeit von Religion und Moderne geschlussfolgert wird, dafür bietet die Engelsfigur mit ihrem Provokations- und Innovationspotenzial eine ästhetische Anschauung“ (Lena Zschunke S. 395 f.).

ham, 1. August 2023

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