Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung
Verlag C.H.Beck, München, 2021, ISBN 978-3-406-76506-3, 760 Seiten, 34 Abbildungen und 25 Karten, Hardcover (Leinen), gebunden mit Lesebändchen und Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 39,95 (D)
Der 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei Chinas, Chinas erfolgreiche Landung auf dem Mars und Chinas Handelsüberschuss von 1,27 Billionen Dollar im ersten Halbjahr 2021 sind drei von diversen Nachrichten, die deutschen Medien in den letzten Wochen Schlagzeilen wert waren (vergleiche dazu Matthias Nass, Mörderische Experimente. Die Kommunistische Partei Chinas feiert ihren 100. Geburtstag. In: DIE ZEIT Nº 28 vom 28. Juli 2021 S. 17; MARSLANDUNG: China gelingt mit dem Raumschiff „Tianwen-1″ erstmalig Landung auf dem roten Planeten. In: Welt Nachrichtensender vom 15.5.2021; Chinas Handel boomt. Die Exporte sind im Juni um mehr als 30 Prozent gestiegen. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 159, 14. Juli 2021, S. 17). Einen anderen Ton schlägt das ehemalige Mitglied der Kommunistischen Partie Chinas XIA Ming an, der heute als Politologe an der Universität von New York lehrt: „Vor dem Zweiten Weltkrieg waren der Nationalsozialismus und der Faschismus eine Gefahr für die Welt. Heute ist es China, das die demokratische Welt herausfordert mit einer Mischung aus Faschismus, chinesischer Autokratie und technologischem Totalitarismus. Wenn man bedenkt, dass China die zweitgrößte Wirtschaft, die größte Bevölkerung, das viertgrößte Staatsgebiet und die größte autoritäre Partei der Welt hat, wird klar, warum dies die größte Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg ist“ (zitiert nach Sophie Lepault und Romain Franklin, Die neue Welt des Xi Jinping, Arte Concret, verfügbar bis 11.8.2021: https://www.arte.tv/de/videos/078193-000-F/die-neue-welt-des-xi-jinping/).
Wer verstehen will, wie China vom Höhepunkt seiner imperialen Machtentfaltung, seiner wirtschaftlichen und seiner kulturellen Blüte unter Kaiser Quianlong (1711 – 1799; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Qianlong) zur gedemütigten Halbkolonie in der späten Qing-Zeit und neuerdings wieder zur globalen Supermacht geworden ist, sollte zu der glänzenden Studie des deutschen Sinologen, Gesellschafts- und Kulturwissenschaftlers Klaus Mühlhahn über die Geschichte des modernen China greifen. Mühlhahn erklärt die Entstehung des modernen China aus einem längeren Zeitraum und legt dabei die Kontinuität einiger seiner wichtigsten Institutionen, das Fortbestehen langfristiger Probleme und Herausforderungen und seine historisch wichtige Rolle auf der internationalen Bühne dar. „Ein sinnvoller Ausgangspunkt … ist die Periode, die als frühe Moderne bezeichnet wird (etwa Mitte des 17. bis 18. Jahrhundert). In vielerlei Hinsicht kann diese Periode nicht nur als eine ›spätkaiserliche‹ Phase im Niedergang des traditionellen China verstanden werden, sondern auch als ›frühneuzeitlicher‹ Vorläufer der kommenden Entwicklungen. Zu diesem Zeitpunkt, ab 1644 unter der Herrschaft der Qing-Dynastie, entwickeln sich viele Kerninstitutionen des späten Kaiserreichs … [Diese] Institutionen in Gesellschaft und Kultur prägten Chinas historische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert und beeinflussten seine politischen Entscheidungen“ (Klaus Mühlhahn S. 12 f.). Die Untersuchung dieser Institutionen und ihrer Rolle in Ereignissen, Entscheidungen und Prozessen liefert nach Mühlhahn eine stringentere Erklärung historischer Entwicklungen.
„Mit dem Fokus auf Institutionen will die Geschichte der Entstehung des modernen China über die politische Geschichte hinaus weitere Teilbereiche der Geschichte einbeziehen, um mit Hilfe institutioneller Strukturen und Prozesse bestimmte Entwicklungen zu erklären … Handel, Märkte, Geld werden einbezogen. Die Institutionsgeschichte befasst sich mit den Drehbüchern hinter Organisationseinheiten wie Regierungen, Dörfern und Städten, Wirtschaftsunternehmen und dem Militär. Zusammengenommen interagieren diese Skripte auf komplexe Weise mit religiösen und politischen Ansichten, indigenen kulturellen Traditionen und Transfers aus der Außenwelt. Die Perspektive der institutionellen Geschichte ist für sich genommen wichtig, bietet aber auch die Grundlage für ein umfassendes Verständnis des heutigen China“ (Klaus Mühlhahn S. 17).
Im Ergebnis sind die Jahrzehnte seit 1978 nur das letzte Kapitel von institutionellen Innovationen, Zerstörungen und Veränderungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. „Der langwierige Entstehungsprozess von neuen formellen und informellen Regeln führte schließlich zu inklusiveren ökonomischen Bedingungen und eröffnete neue Möglichkeiten. Durch einen komplexen Prozess haben die Reformen der institutionellen Ordnung für gerechtere Wettbewerbsbedingungen gesorgt, Eintrittsbarrieren und Diskriminierung beseitigt, Eigeninitiative gefördert und somit zu Stabilität und Wachstum geführt. China konnte im 21. Jahrhundert im Ergebnis seinen Platz in der Welt zurückerobern … Chinas Aufstieg ist jedoch nur teilweise erfolgreich und unvollendet. Trotz spektakulärer Erfolge und erheblicher Fortschritte bleiben Kernfragen ungelöst. Die größte Herausforderung für China ist die Notwendigkeit politischer Reformen … Selbst nach 1978 wurde kein überzeugendes dauerhaftes und effizientes institutionelles Äquivalent zur wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes geschaffen. Im Gegenteil, die wirtschaftliche Modernisierung auf der Grundlage wirtschaftlicher Institutionen wurde von der politischen Entwicklung abgekoppelt, die weiterhin von exklusiven politischen Institutionen vorangetrieben wurde. Ob der wirtschaftliche Aufstieg fortgesetzt werden kann, wenn China die lange aufgeschobenen politischen Reformen nicht durchführt, ist eine offene Frage“ (Klaus Mühlhahn S. 28 ff.).
ham, 15. Juli 2021