Verlag C. Bertelsmann, München, 2018, ISBN 978-3-570-10331-9, 256 Seiten,
€ 20,00 (D) / € 20,60 /CHF 28,90
Nach dem schier endlosen Streit um ihre Flüchtlingspolitik, der Abstrafung der CSU bei der Wahl
in Bayern am 14. Oktober 2018 und den immer neuen Spekulationen um das mögliche Ende der
Großen Koalition und Merkels Kanzlerschaft könnte Angela Merkel in Josef Joffes Ende August
erschienenem Bildungsroman „Der gute Deutsche“ Trost gefunden haben: Für den Herausgeber der
Wochenzeitung „Die Zeit“ ist Merkel schon jetzt zum Inbegriff der guten Deutschen geworden.
Sie hat ihren herausragenden Platz in der Geschichte Deutschlands sicher.
Sie löst damit den „hässlichen Deutschen“ ab, den Joffe in Diederich Heßling, der literarischen
Hauptfigur aus Heinrich Manns Roman Der Untertan vorgezeichnet sieht. „Er ist ein
obrigkeitsgläubiger Kaiserverehrer, ein gewissenloser Opportunist, der nach oben buckelt und nach
unten tritt – ein arroganter Nationalist, der Liberale, Sozialisten und Juden hasst. Perfekt verkörpert
er den“ sogenannten deutschen Sonderweg, den es nach Auffassung des Großjournalisten Joffe nie
wirklich gab: „Tatsächlich war das kaiserliche Deutschland des Untertans im Guten wie im Bösen
Teil der europäischen Familie. Der >Sonderweg< war in Wahrheit in eine breite europäische Trasse
eingebettet, wo das liberaldemokratische Prinzip überall im Gespann mit Antisemitismus,
Rassismus, Autoritarismus und Chauvinismus lief. Auf diesem Weg war nichts vorbestimmt –
weder Hitler noch Holocaust“ (Josef Joffe S. 17 f.).
Die Wandlung Deutschlands vom Waisenkind zum Wunderkind musste sich wie im Weg eines
Märchenhelden in diversen Prüfungen in markanten Schwellensituationen bewähren: Die erste
Prüfung, die materielle Erneuerung, „hat Deutschland in der Phase des Wiederaufbaus mit 1+
bestanden. Die Vergangenheitsbewältigung“ verlief dagegen nicht so glatt. Das zeigt sich unter
anderem am gymnasialen Geschichtsunterricht, der in den beiden ersten Jahrzehnten nach dem
Zweiten Weltkrieg die Zeit des Nationalsozialismus ausgespart hat und mit dem Beginn des
Zweiten Weltkriegs endete. Die von Konrad Adenauer betriebene Westbindung und die
Wiedergutmachung gegenüber den Juden und dem jüdischen Staat hat dann die politische
Resozialisierung Deutschlands eingeleitet.
Am Beginn der frühen Sechziger Jahre folgte mit den Auschwitz-Prozessen die Auseinandersetzung
mit der NS-Vergangenheit. Dazu kamen in den Siebziger Jahren Willy Brandts heftig umkämpfte
Ostpolitik, sein Kniefall vom 7. Dezember 1970 am Mahnmal für die Opfer des Aufstands im
Warschauer Ghetto und der Terror der Rote Armee Fraktion und ihrer Ableger. „Mord, Entführung
und Erpressung summierten sich über Jahre zum unerklärten Ausnahmezustand […]. Würde der
Staat mit verzehnfachter Härte zurückschlagen, um im Namen der Sicherheit die Säulen der
liberalen Demokratie einzureißen? Er tat es nicht; die Regierung Helmut Schmidt besiegte den
Terror, ohne das Fundament des Staates, die Bürgerfreiheit zu demolieren“ (Josef Joffe, S. 23). Über
der Nachrüstungsdebatte ist die Regierung Schmidt gefallen. Doch der geschasste Kanzler bekam
nachträglich Recht, als die Sowjetunion ihre Vorrüstung im Zuge der >Null-Lösung< zurücknahm.
Die Wiedervereinigung von 1990 und die beispiellose Abrüstungspolitik markieren den Beginn der
dritten Schwelle.„Von 3500 Kampfpanzern blieben nur 250 übrig. Auf dem neu geordneten
europäischen Brett positionierte sich das vereinte Deutschland nicht als Macht-, sondern als
Moralstaat […]. Peinlich vermied der Hüne Gesten der Stärke, legte sich anstelle der alten Ketten
freiwillig neue an – ein einzigartiger Vorgang in der Staatengeschichte. Nicht weniger, sondern
mehr europäische Integration sollte es sein – durch Souveränitätsverzicht auf dem Weg zu einer
>immer engeren Union<, durch Vergemeinschaftung der mächtigen D-Mark im Euro […]. Um die
strategische Arena machte die Bundesrepublik im krassen Gegensatz zum Zweiten und Dritten
Reich einen weiten Bogen […]. Amerikas Alliierte kämpften mit, die >Zivilmacht< Deutschland
entzog sich den Einsätzen mit viel Geld und nicht-militärischen Gaben. Die Zivilreligion des >Nie
wieder!“< warf einen doppelten Bonus ab […]. Mit seiner nachgerade unbedingten Friedfertigkeit
konnte Deutschland Läuterung und moralischen Selbstwert bezeugen, zugleich den kostenträchtigen
Zumutungen seiner Verbündeten ausweichen“ (Josef Joffe S. 25).
Der gute Deutsche kam also zwar von Bismarcks Preußen, dem Ende des Kaiserreichs, dem viel
zu frühen Ende der ersten Republik, dem noch schnelleren Ende des „Tausendjährigen Reiches“
und damit von einer toxischen Vergangenheit her, aber die Zweite Republik hat die
Chance der Pfadunabhängigkeit genützt und „die Metamorphose“ vom hässlichen zum guten
Deutschen „glänzend gemeistert“, indem sie mit ihrer Vergangenheit gebrochen und ein
„Gegenmodell für das Morgen“ (Josef Joffe S. 222 ff.) entwickelt hat. Zu den Säulen dieses
Gegenmodells gehören Deutschlands liberale Verfassung, seine unabhängige Justiz, die
Gewaltenteilung, seine Organisation als Bundesstaat mit Länder-Vorrechten, die Kontrolle der
Exekutive durch das Parlament, das Verfassungsgericht und das Grundgesetz, die Religionsfreiheit
und anderes mehr. Erwachsen geworden sollten die Deutschen nach Joffe ihre
Entschuldigungsrhetorik hinter sich lassen, republikanische Patrioten werden und Verantwortung
übernehmen. „Die Berliner Republik muss keine Entschuldigungsrhetorik“ mehr „betreiben, um
sich selber die Wiedergutmachung zu bescheinigen. Das Problem liegt auf der Hand. Wer an einem
Schuldkomplex laboriert, wird ständig versuchen, die Last abzuschütteln oder sie anderen
aufzuhalsen. Es ist ersprießlicher, die ererbte Schuld in der dritten Generation in Verantwortung zu
verwandeln. Der Unterschied ist ein himmelweiter. Schuld ist Schande, die nach Verdrängung oder
Übertragung schreit. Verantwortung ist das Gegenteil von Schmach. Sie ist ein Ehrenzeichen, das
Selbstachtung und selbst gewählte Verpflichtung symbolisiert. Ein Gemeinwesen, das so verfährt,
kann sich ehrlicher machen. Es muss nicht Selbstlosigkeit auffahren, wo legitime Interessen im
Spiel sind. Es kann sich auch ein freundliches Verhältnis zur Nation leisten, eines das nicht
von Nationalismus, sondern von Patriotismus geprägt ist“ (Josef Joffe S. 237).
Wer meint, Joffes Merkel-Lob sei übertrieben, sollte unter den vielen Rezensionen des Bandes zu
der am 01. 10. 2018 in der Süddeutschen Zeitung auf Seite 14 unter dem Titel „Makellose Macht“
erschienen Besprechung des deutschen Politikwissenschaftlers und Politikberaters Werner
Weidenfeld (https://www.sueddeutsche.de/politik/politik-makellose-macht-1.4150001) greifen.
Weidenfeld fragt, ob Joffe neben Konrad Adenauer, Willy Brandt und Angela Merkel nicht
auch Theodor Heuss, Ludwig Erhard, Gustav Heinemann, Helmut Kohl und Gerhard Schröder hätte
nennen müssen. „Der Autor scheint von Angela Merkel gebannt: >Welch unglaublicher
Rollentausch im Vergleich zu 1945. Deutschland ist der sanfte Hegemon und Angela Merkel ihr
Prophet.< So viel Merkel-Lob war bisher auf engem Raum nicht zu lesen: >Perfekt personifiziert
die Kanzlerin seit ihrem Amtsantritt 2005 das neue Deutschland.<“ (Werner Weidenfeld a. a. O.).
ham, 16. Oktober 2018
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