Langen Müller Verlag, München, 2022, ISBN 978-3-7844-3585-5, 284 Seiten, 7 farbige und zahlreiche s/w Abbildungen, Klappenbroschur, Format 21,5 x 13,5 cm, € 18,00 (D) / € 18,50 (A) / CHF 24,50

Seine erste Bekanntschaft mit Rabenvögeln hat der spätere Zoologe, Evolutionsbiologe, Ökologe und zeitweilige Sektionsleiter Ornithologie der Zoologischen Staatssammlung München Josef Helmut Reichholf mit zehn Jahren gemacht. Ein älterer Junge im Dorf hatte eine Dohle (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Dohle) und er wollte unbedingt auch eine besitzen. „Auf mein Bitten und Drängen hin verriet er mir schließlich, wie man an eine junge Dohle kommt. In die Spitze unseres Dorfkirchturms müsse man zur rechten Zeit im Mai steigen. Ganz oben sind ihre Nester! Eine Treppe im gemauerten Turm und dann Steiggriffe am zentralen Balken führen dort hinauf … Mindestens 50 Dohlenpaare hausten damals im Kirchturm. Die meisten hatten Junge … Daher war es leicht, einen passenden Jungvogel zu erreichen“ (Josef H. Reichholf S. 7 f.). Nicht bedacht hatte Reichholf, dass die schon richtig keck um sich schauende Jungdohle viel zu alt gewesen war, um auf einen Menschen geprägt zu werden. Als die Sommerferien begannen, verließ sie ihn. 15 Jahre später zog er eine Rabenkrähe auf. „Diese war klein genug. Sie hatte die Augen noch geschlossen und als sie sich öffneten, mich als erstes Lebewesen erblickt. Da hielt sie sich für meinesgleichen und blieb“ (Josef H. Reichholf S. 9; vergleiche dazu https://www.plantura.garden/gartenvoegel/rabenkraehe).

Reichholfs 2009 in erster Auflage bei Herbig erschienener und viel besprochener Longseller ›Rabenschwarze Intelligenz: Was wir von Krähen lernen können‹ wurde 2010 in Österreich als ›Wissenschaftsbuch des Jahres‹ im Bereich Medizin / Biologie prämiert und hatte bald die vierte Auflage erreicht (vergleiche dazu etwa https://www.lovelybooks.de/autor/Josef-H.-Reichholf/Rabenschwarze-Intelligenz-144776470-w/). 2011 erschien eine weitere Auflage bei Piper. In der jetzt vorliegenden Ausgabe erinnert Reichholz in seinem Rück- und Ausblick an die Medienberichte von Anfang Februar 2022, nach denen ein schwedisches Medienunternehmen Krähen als Sammler von Zigarettenkippen einsammeln will. „Videos zeigen, was unglaubhaft scheint. Die Krähen lernten, dass sie für das Sammeln und Abliefern von Zigarettenstummeln belohnt werden. Die Kippen selbst mögen sie natürlich nicht. Straßenreinigung der Zukunft auf umweltfreundliche Art, spekulieren die Medien. Dabei neigen Krähen doch weit mehr dazu, Mülltonnen zu plündern und den Inhalt auszustreuen, wenn sie darin nach verzehrbaren Resten suchen. Zu ordnungsgemäßer Entsorgung von Abfall neigen sie ihrer Natur nach nicht. Eher bauen sie Plastikfetzen in ihre Nester ein. Das ist nötigt, wenn sie diese aus Drahtkleiderbügeln gefertigt haben, wie es im innerstädtisch blitzsauberen Tokio geschieht. Die dortigen Krähen stibitzen Metallkleiderbügel von den Wäscheleinen der Balkone der Hochhäuser und verwenden sie zum Nestbau. Doch auf Draht brütet sich’s schlecht, auch im sommerschwülen Tokio. Da verbessert schon eine Plastiktüte den Sitzkomfort auf dem Gelege“ (Josef H. Reichholf S. 251). 

13 Jahre nach dem Erscheinen der Erstauflage erinnert Reichholf daran, dass er mit seinem Buch nicht nur erheiternde, skurrile oder auch nachdenklich stimmende Geschichten erzählen, sondern mit Fakten und Befunden Änderungen veranlassen wollte, wo sie geboten erschienen. Dabei ging es ihm insbesondere um das Jagen und Abschießen der Krähen: Nach dem von 1990 bis 1996 im nördlichen Saarland durchgeführte Großversuch sollte eigentlich geklärt sein, dass sich ein Totalabschuss von Raubwild und Raubzeug auf die Bestände von Niederwild und Singvögeln nicht auswirkt. Die Vorgehensweise Saarland „war mit dem Naturschutz abgestimmt, denn … auch unter Naturschützern war es strittig, ob Krähen, Elstern und Füchse die Vorkommen seltener Arten gefährdeten … Mit 939 abgeschossenen Rabenkrähen, 909 Eichelhähern (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Eichelhäher) und 394 Elstern (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Elster), zusammen also 2242 Rabenvögeln bzw. Stück Raubzeug, entfiel auf diese der größte Teil des Totalabschusses. An Raubwild wurden 922 Stück erledigt, nämlich 579 Füchse, 174 Hermeline, 146 Marder, 15 Iltisse und acht Dachse … Der durchschnittliche jährliche ›Totalabschuss‹ lag … so hoch, dass er … die Rabenkrähen völlig ausgerottet haben müsste … Dass dennoch Jahr für Jahr mehr als 100 bis über 200 Rabenkrähen erlegt wurden, beweist … hinlänglich, wie rasch freigewordene Brutreviere von weit umherstreifenden Nichtbrütern eingenommen werden. Über die sechs Jahre des Totalabschusses ließ sich nicht einmal ein (statistisch signifikanter) Abnahmetrend feststellen … Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Elstern … Einzig die Jagdstrecken des Eichelhähers wurden etwas rückläufig. Sie nahmen in den beiden letzten Jahren um 15 Prozent ab, was aber … auch eine unbedeutende Schwankung gewesen sein könnte. Der Zustrom von Eichelhähern im Jagdjahr 2002/03 aus dem Nordosten führte sogar zu Neuansiedlungen in Großstädten“ (Josef H. Reichholf S. 107 ff. ).

Aber Reichholz’ Hoffnung auf eine Änderung des Jagdverhaltens und Vorurteile gegenüber den Krähen hat sich nicht erfüllt. „Was man immer schon gemacht hat, wird auch weiterhin gemacht. Das ist nicht nur Jägerart. Auch große Teile der nichtjagenden Bevölkerung finden Krähen eher lästig und sind der Meinung, es geben ohnehin schon zu viele. Als schön empfinden sie die wenigsten“ (Josef H. Reichholf S.252). Dieser pessimistischen Einschätzung steht die schiere Menge an interessanten Zuschriften zu seinem Buch entgegen, die zeigt, dass die Krähen doch erstaunlich viele Freunde haben. Eine Zuschrift aus Hamburg berichtete, dass sich Hamburger Krähen Walnüsse nicht nur von Autos, sondern auch von Menschen aufknacken lassen. Reichholf blieb skeptisch, weil wir den Krähen nicht leichtfertig Einsicht zubilligen sollten, weil das für unser Verständnis passt. Aber seine eigene Erfahrung in München beim Englischen Garten bestätigte den Bericht. „Die kleine Seitenstraße, eine Einbahnstraße, die ich benutzte, war einseitig von Autos zugeparkt. Neben diesen … [sah ich eine Rabenkrähe], die gestelzten Schrittes auf dem Bürgersteig herumsuchte. Sie trug eine Walnuss im Schnabel. Natürlich hielt ich inne und schaute zu ihr hinüber. 

Da flog sie auf, überquerte die Straße und landete auf meiner Seite knapp zehn Meter vor mir. Dort ließ sie die Nuss auf den Boden fallen. Diese rollte nur ein kurzes Stück; höchstens einen halben Meter. Daraufhin flog die Krähe auf und setzte sich drei oder vier Fahrzeuge weiter aufs Dach eines der Autos. Da außer mir niemand auf der Straße war, sagte ich scherzhaft ›Ich soll wohl die Nuss aufmachen!‹, und schritt langsam auf diese zu. Mit einem kurzen Tritt öffnete ich sie, ohne sie zu zerquetschen. Dann ging ich weiter, zunächst, ohne mich umzusehen, weil die Krähe abhob und sich offenbar anschickte, einen Bogen zu fliegen. Nach etwa zehn Metern schielte ich zurück. Die Krähe war bei der Nuss gelandet und schlug sich Stücke vom Kern heraus. Anscheinend war ich weit genug entfernt, denn dass ich ihr zusah, störte sie nicht. Sie hatte sich also gezielt die Nuss von mir öffnen lassen. Der ganze Ablauf ließ keinen Zweifel zu“ (Josef H. Reichholf S. 258).

ham, 23. Juni 2022

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