Aus dem Englischen von Max Henninger

Politik bei Wagenbach, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023, ISBN 978-3-8031-3736-4, 144 Seiten, Klappenbroschur, Format 21,5 x 13,5 cm, € 20,00

Die 2022 unter dem englischen Titel „Scorched Earth. Beyond the Digital Age to a Post-Capitalist-World“ bei Verso in London erschienene Originalausgabe von Jonathan Crarys melancholischen Abgesang auf den Kapitalismus setzt mit der Feststellung ein, dass es eine lebenswerte und gemeinsame Zukunft im Postkapitalismus nur offline und ohne die Kommunikationsmittel des 24-Stunden-Kapitalismus gibt: „Wenn es eine lebenswerte und gemeinsame Zukunft auf unserem Planeten geben soll, dann wird es eine Offline-Zukunft sein, abgekoppelt von den weltzerstörenden Systemen und Funktionsweisen des 24-Stunden-Kapitalismus. Was auch immer von der Welt übrig bleibt: Das Netz, in dem wir heute leben, wird ein zerbrochener und peripherer Teil der Ruinen sein, auf denen vielleicht neue Gemeinschaften und zwischenmenschliche Projekte entstehen werden. Wenn wir Glück haben, wird das kurzlebige digitale Zeitalter von einer hybriden Kultur abgelöst werden, die auf alten und neuen Formen des gemeinsamen Lebens und Überlebens basiert.

Jetzt, inmitten des sich verschärfenden sozialen und ökologischen Zusammenbruchs, wächst die Erkenntnis, dass das tägliche, auf allen Ebenen vom Internetkomplex überschattete Leben die Schwelle zur Irreparabilität und Toxizität überschritten hat. Immer mehr Menschen wissen oder spüren dies, da sie die schädlichen Folgen erleben und im Stillen erdulden. Die digitalen Werkzeuge und Dienste, die von Menschen aus aller Welt genutzt werden, unterstehen der Macht von transnationalen Unternehmen, Geheimdiensten, kriminellen Kartellen und einer soziopathischen Milliardärselite. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung […] ist der Internetkomplex der unerbittliche Motor für Sucht, Einsamkeit, falsche Hoffnungen, Grausamkeit, Psychose, Verschuldung, vergeudete Lebenszeit, Gedächtnisverlust und sozialen Zerfall. Alle angepriesenen Vorteile werden durch seine schädlichen und sozialmörderischen Auswirkungen irrelevant und zweitrangig. Der Internetkomplex ist untrennbar verbunden mit dem unermesslichen Ausmaß des 24-Stunden-Kapitalismus und dessen Rausch der Akkumulation, Extraktion, Zirkulation, Produktion des Transports und Ausbaus im globalen Maßstab. In fast allen Bereichen des Onlinebetriebs werden Verhaltensweisen gefördert, die der Möglichkeit einer lebenswerten und gerechten Welt zuwiderlaufen“ (Jonathan Crary, S. 11 f.).

Für den Kunstkritiker, Essayisten und Meyer-Schapiro-Professor für moderne Kunst und Theorie an der Columbia University in New York Jonathan Crary sind der Reichtum und die Macht der Milliardärsklasse strukturell mit Schlüsselelementen des Internetkomplexes verknüpft. „Es ist kein Zufall, dass die Kontrolle über die dominierenden Medien- und Technologiekonzerne in den Händen dieser kleinen Elite liegt. Die meisten lukrativen Strategien der Reichtumsproduktion aus den letzten zwei Jahrzehnten wären undenkbar gewesen ohne das Tempo und die Berechnungsressourcen fortgeschrittener digitaler Netzwerke, die Ausbreitung von Kryptowährungen, von Hightech-Steuervergünstigungen und Geldwäschesystemen sowie die Verbindung von Gewinnen aus Drogen-, Waffen- und Menschenhandel mit legitimeren Reichtumsreservoiren. Die massive Verlagerung des sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Lebens in Onlinesysteme und -plattformen hat die fortlaufende Verlagerung des Wohlstands nach oben vorangetrieben. In einem System, in dem fast jede Geste und jeder Blick zu Geld gemacht werden können, werden die Menschen unvermeidlich dazu angehalten, rund um die Uhr am Bildschirm zu sein. Daher besteht eine der ständigen Aufgaben der Vasallenklasse darin, diejenigen zum Schweigen zu bringen, auszugrenzen oder zu marginalisieren, die die gesellschaftliche Notwendigkeit und den Nutzen digitaler Medienprodukte in Frage stellen. Die Vasallenklasse ist die zeitgenössische Version jener unterwürfigen Herde von Autoren und Kommentatoren, deren Existenz zuerst von Karl Mannheim und Max Weber konstatiert wurde und deren Hauptaufgabe bis heute in der Rechtfertigung und Festigung der bestehenden Verhältnisse besteht“ (Jonathan Crary S. 91 f.). 

Technomodernisten denunzieren menschliche Nähe, Augenkontakt und menschliche Wärme als nostalgisch, sentimental und überbewertet und geben vor, sie durch Apps digital simuliert zu können. Crary hält dagegen wie Martin Buber die direkte Begegnung und den Dialog für den Aufbau und die Aufrechterhaltung des Zusammenlebens für unerlässlich. „Begegnungen können zwischen Fremden oder Feinden ebenso stattfinden wie zwischen Nachbarn, Kollegen oder Liebenden, zwischen zwei Menschen oder innerhalb einer Gruppe; die Begegnung ist einfach eine unerlässliche Voraussetzung für anhaltende menschliche Verbundenheit: »[B]esser noch Gewalt am real erlebten Wesen, als die gespenstische Fürsorge an antlitzlosen Nummern!« (Martin Buber) […] Aufschlussreich war für Buber […] das Fragment des Heraklit: »Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt.« Mit der Enteignung und Instrumentalisierung des Gesichts, der Stimme und des Blicks werden die grundlegenden Mittel zur Ausrufung des Gemeinsamen außer Kraft gesetzt“ (Jonathan Crary S.124 f.). Was die Ersetzung der direkten Kommunikation durch Überwachungskameras heißen kann, hat der China-Korrespondent der Wochenzeitung Die ZEIT Jens Mühling (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jens_Mühling) jüngst so beschrieben:

„Als ich neulich mit dem Zug in der chinesischen Millionenmetropole Hangzhou ankam, entdeckte ich auf der Bahnhofstoilette einen Klopapierspender mit Gesichtsscanner. Ich konnte mir nicht erklären, wozu das gut sein soll – vielleicht, um die Pro-Kopf-Menge an Papier zu begrenzen? Neugierig hielt ich mein Gesicht in den Scanner. Was dann geschah, dazu komme ich später […]. Wer nach China umzieht, gibt das Recht auf die eigene Privatsphäre quasi an der Passkontrolle ab. Gleich dort wird man ins staatliche Biometriesystem eingespeist. Eine Kamera erfasst das Gesicht, ein Scanner die Fingerabdrücke […]. Die allgegenwärtigen Überwachungskameras und Gesichtsscanner wirken anfangs verstörend – bis man sich bei dem Gedanken ertappt, dass sie auch Vorteile haben […]. Nach […] Schätzungen in der IT-Fachpresse sind es inzwischen mehr als 700 Millionen [Überwachungskameras] – damit käme rund eine Linse auf zwei Chinesen […]. [W]enn ich morgens mit dem Rad ins Büro fahre, bin ich stets in Sichtweite mindestens einer Kamera. Die älteren Exemplare sind längliche Metallkästen, die neueren sehen aus wie futuristische Insektenaugen.

Letztere hängen auch im Kindergarten meiner Tochter. In jedem Raum. Der Sicherheit wegen. Und um bei Streit überprüfen zu können, wer angefangen hat – so erklärte uns das mal eine der Erzieherinnen. Täglich um die Mittagszeit bekommen meine Frau und ich per WeChat ein Foto zugeschickt, das unsere Tochter beim Mittagsschlaf zeigt. Abends folgen weitere Fotos und Videos vom Tagesablauf der ganzen Kindergruppe. Die wirklich sehr netten Erzieherinnen wollen, dass wir Eltern uns keine Sorgen machen. Meine Frau findet das prima. Ich bin hin- und hergerissen […]. Eine chinesische Bekannte erzählte neulich, dass auch in der Wohnung ihrer 92-jährigen Großmutter inzwischen Kameras hängen. Der Sicherheit wegen. Damit die Kinder und Enkel nachschauen können, wie es Oma geht. Ich frage, ob die Oma denn damit einverstanden sei, den ganzen Tag gefilmt zu werden – meine eigene Mutter wäre das ganz sicher nicht. Die chinesische Bekannte verdreht die Augen. Ihr Europäer immer […].

Vor der Rückfahrt nach Shanghai steuerte ich im Bahnhof die Toilette an. Dort hing der eingangs erwähnte Klopapierspender. Neugierig hielt ich meinen Kopf in die Kamera. Es geschah: nichts. Ich bekam kein Papier. Die chinesischen Scanner tun sich manchmal schwer mit nicht asiatischen Gesichtern“ (Jens Mühling, Die Partei weiß alles über mich. In: Die ZEIT. Nº 34 vom 8. August 2024, S. 34).

Crary setzt statt auf Überwachungstechnologien auf neue Formen der Solidarität. „Obwohl der globale Kapitalismus von irreparablen Rissen und Brüchen durchzogen ist, wird er immer noch von Individuen zusammengehalten, die sich an ihr Abgetrenntsein, ihre Privatsphäre, ihre Freiheit von anderen Individuen und ihre Angst vor allem Gemeinsamen klammern. Der Internetkomplex fährt fort, diese einsamen Subjektivitäten massenhaft zu produzieren, kooperative Formen des Zusammenschlusses zu verhindern und Möglichkeiten des wechselseitigen Austauschs und der kollektiven Verantwortung aufzulösen. Die Schwelle zu einer postkapitalistischen Welt ist nicht mehr weit entfernt, höchstens noch ein paar Jahrzehnte. Wenn jedoch nicht aktiv neue Gemeinschaften und Formationen vorbereitet werden, die zu egalitärer Selbstverwaltung, gemeinsamem Eigentum und der Fürsorge für die Schwächsten fähig sind, wird sich der Postkapitalismus durch Barbarei, regionalen Despotismus und Schlimmeres auszeichnen, und die Knappheit wird unvorstellbar grausame Formen annehmen. Sartre sah die aufkommenden Aufstände mit dem einzigartigen Vermögen ausgestattet, sich von der Unterwerfung unter die » ›anti-gesellschaftlichen‹ Apparate« zu befreien und Passivität und Isolation in neue Formen der Solidarität zu überführen. Die revolutionäre Gruppe, die auf einen Ausnahmezustand reagiere, könne ihre eigene Zeitlichkeit definieren und die ›Geschwindigkeit, mit der die Zukunft zu ihr kommt‹. Jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später, inmitten der Verbrennung und Plünderung unserer Lebenswelt, bleibt nur noch wenig Zeit, um einer Zukunft zu begegnen, in der wir auf neue Weise miteinander auf der Erde leben“ (Jonathan Crary S. 134).

ham, 12. August 2024

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