Verlag C.H.Beck, München 2022, ISBN 978-3-406-78045-5, 270 Seiten, 26 Abbildungen, Hardcover gebunden, mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 28,00

Großausstellungen wie die Documenta 15 mit über 1400 Teilnehmern verleiten dazu, gemessenen Schritts an der Fülle der Exponate vorbei zu defilieren, sie mit kurzen Seitenblicken zu streifen und allenfalls in Einzelfällen stehenzubleiben, um einzelne Arbeiten eines längeren Blicks zu würdigen. Rechtfertigen lässt sich diese Praxis, wenn man glaubt, das Wesentliche in einem Augenblick erfassen zu können. Man kann sich dabei gegebenenfalls auf Clement Greenberg berufen, der beim Betrachten eines Bildes jedes Vorwissen ausgeschlossen sehen wollte, sich beim Aufhängen eines Bildes die Augen zuhielt und sie nur für einen kurzen Augenblick zur Seite nahm, um seine Bildwahrnehmung auf den reinen Moment zu beschränken und sein Sehen auf  den retinalen Zustand zurückzuführen (vergleiche dazu und zum Folgenden  Anne Hoormann, Die Entfernung der Inhalte aus dem Bild. Zur Konstruktion des ›unschuldigen Sehens‹ im abstrakten Expressionismus, S. 55 ff.: https://www.kulturverlag-kadmos.de/site/assets/files/2073/9783865990211_kulturfreie-bilder.pdf). Das Auge wurde dabei zum aktiven Organ, das das Sichtbare ganzheitlich erfasst und es selbst hervorbringt. Alles andere spielte beim Betrachten keine Rolle.

Der in Jena Neuere Kunstgeschichte lehrende Leibnizpreisträger Johannes Grave (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Grave), geht in seiner Theorie der Bildbetrachtung dagegen davon aus, dass sich das Potenzial von Bildern erst in längeren Wahrnehmungsprozessen entfaltet. In der Dualität von Bildern. d. h.  in der Eigenschaft, dass sie selbst sichtbar sind und zugleich etwas anderes sichtbar machen, ist nach Grave „eine Spannung angelegt, die [nur (ham)]in zeitlich erstreckten Vollzügen der Betrachtung ausgetragen werden kann. Denn anders als sonstige Gegenstände bieten die Bilder die Gelegenheit,  den Fokus der Aufmerksamkeit zwischen dem Dargestellten und dem Bild in seiner Materialität wechseln zu lassen. Sofern diese Verschiebung des Augenmerks bewusst erfahren werden soll, bedarf es jedoch zeitlicher Prozesse. Als spannender Widerstreit wird diese Dualität … im zeitlichen Hin und Her erfassbar“ (Johannes Grave S. 209). 

Bilder wollen deshalb wiederholt betrachtet werden. Die dabei entdeckten Spannungen und Widersprüche können aufschlussreicher und faszinierender sein als vermeintlich klare Ergebnisse. „Mit dem Nachdenken über die Temporalität der Bildbetrachtung verbindet sich daher ein Plädoyer dafür, sich  beim Blick auf Bilder Zeit zu nehmen. Das … Sehen sollte nicht im Schatten des Resultats, des Gesehenen und Gedeuteten verbleiben. Will man, dass Bilder ihre Potenziale ausspielen können, so bedarf es einer Offenheit für die Zeitlichkeit der Betrachtung sowie für Unbestimmtheit und Widersprüche, die dabei begegnen. Ein allzu zielstrebiges Sehen läuft  … Gefahr, die Qualität von Bildern zu verfehlen“ (Johannes Grave S. 210).

„Der ganze Reichtum der Einsichten, die sich im Prozess des Schauens und Denkens darbieten können, erschließt sich allein, wenn die Vorgaben des Bildes ernst genommen werden. Nur dann kann es zu überraschenden Einsichten und Wendungen kommen, die zuvor gewonnene Betrachtungen nochmals in einem anderen Licht erscheinen lassen. Zusätzlich profitieren kann der Prozess der Bildbetrachtung vom Hinzuziehen weiterer Informationen, etwa zum historischen Entstehungskontext eines Bildes. Die Dynamik der Rezeption gerät aber ins Stocken, wenn der Betrachter lediglich wiederzukennen versucht, was er bereits aus anderen Quellen weiß … Es gibt eine recht einfache Möglichkeit, die Offenheit für die rezeptionsästhetische Temporalität von Bildern zu erhöhen: den Dialog unter mehreren Betrachterinnen und Betrachtern … Ein offener Austausch, der … mit Beobachtungen und Gedanken aus verschiedenen Perspektiven  … zum erneuten Hinschauen anregt,  bringt es ganz zwanglos mit sich, dass wir die Zeit des Betrachtens als sinnerfüllt und augenöffnend erfahren. Das sollte es uns wert sein, diese Zeit zu investieren“ (Johannes Grave S. 211 f.).

ham, 1. September 2022

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